Rx-to-OTC-Switch – Fluch oder Segen?

Mit Sildenafil (u.a. Viagra®) schickt sich die nächste prominente Substanz an, das Sichtwahlregal zu bereichern – wenn es denn so kommt. Ein Geniestreich oder mehr Arbeit für weniger?

Abb.: Nein, das ist keine „Viagra-Maus“ – das Straubsche Schwanzphänomen der Opioide
 lässt hier eher grüßen.
  (© Adobe Stock #18990693, Erice Isselée)

 

Entlassungen aus der Verschreibungspflicht sind zurzeit kein allzu häufiges Phänomen mehr. Da gab es schon weit lebhaftere Phasen in den 1990er- und 2000er Jahren. Mit Sildenafil (zu maximal 50 mg pro Einzeldosis) würde ein außerordentlich bekanntes Mittel den Weg aus der Verschreibungspflicht finden. Man denke 25 Jahre zurück: 1998/1999 beherrschte Viagra® die Schlagzeilen. Die Tablettenform der blauen Raute war ein Markenzeichen für sich geworden. Diverse Abwandlungen in Form von Me-too-Präparaten folgten. Eine gewisse Schamgrenze besteht freilich, wohl eher weniger beim Arzt des Vertrauens (oder gar einem anonymen Internet-Doc?) als in der Apotheke coram publico. Man kann daher davon ausgehen, dass der Rx-Versandhandel sich zu einem nicht unerheblichen Teil aus derartigen Lifestyle-Mitteln speist. Bei Arzneimittelfälschern stand dieses Präparat ebenfalls hoch im Kurs. Es wird kolportiert, dass selbst blau gefärbter und verpresster Traubenzucker in nicht wenigen Fällen das gewünschte Ergebnis zeitigte. Ja, der Placebo-Effekt und der Einfluss der Psyche sind eben nicht zu unterschätzen, erst recht bei einem solch diffizilen Thema wie erektiler Dysfunktion.

Rechnen Sie mit!

Und damit kommen wir unserer Sache schon näher. Heute liegt ein Rezept auf dem Tisch, die Hauptverantwortung trägt der Arzt, etwas Pharmazeutisches (Wechselwirkungen!?) kommt in der Apotheke gegebenenfalls obenauf. 8,76 € Festpauschale (Privatrezepte!) plus 3 % auf den Einkaufspreis plus eigene Rabatte, macht unter dem Strich je nach Packungsgröße, Dosierung und Anbieterfirma gern um die 10 € Stückertrag – für einen überschaubaren Aufwand. Sofern eben nicht der Versand das Geschäft macht …

Beim Switch in den OTC-Bereich wird es schwer, den Stückertrag zu halten. Nicht nur die Dosis wird, falls überhaupt die Freigabe erfolgt, auf 50 mg je Einzeldosis limitiert bleiben, höchstwahrscheinlich wird es die Packungsgröße auch, z.B. auf 10 oder 12 Stück. Damit liegen wir häufig bei Einkaufspreisen im Bereich von 7,00 € bis 12 €. Üblicherweise beträgt dann der Aufschlag („alte Aufschlagstaxe“) 57 % bis abnehmend auf 48 %, also 3,99 € bis 5,76 €. Eigene Rabatte, Annahme 20 %, in Höhe von 1,20 € bis 2,40 € kämen noch obenauf. Das ergibt Stückerträge deutlich unterhalb von Rx-Privatverordnungen. Selbst wenn man großzügiger kalkuliert – realer AEP mal zwei plus Mehrwertsteuer = Kunden-Endverkaufspreis – stellt man sich jedenfalls nicht besser. Gleichzeitig drohen sogar Preiskämpfe, wenn nicht vor Ort, dann gegenüber dem Versand. Oder würde man diesen Wirkstoff wie die „Pille danach“ in der rezeptfreien Variante vom Versand ausnehmen und damit einen weiteren Präzedenzfall (und wohl Klagegrund) schaffen?

Beratung zu sensiblen Sachverhalten…

Was steht an neuem Aufwand dagegen? Gibt man das Mittel frei wie andere auch, ist der Unterschied eher gering. Wählt man den Weg der „Pille danach“ mit erheblichen Beratungs- und Dokumentationspflichten, kauft man sich für geringere Stückerträge weitaus mehr Arbeit ein. Aber es gibt ja tatsächlich (namhafte) Pharmazeutinnen und Pharmazeuten, die es geradezu lieben, sich zusätzlich etwas aufbürden zu dürfen: Berufsimage, Kompetenzgewinn und so weiter. Das Ansehen bei den Kunden kann indes leiden, wie die eine oder andere Erfahrung mit der „Pille danach“ zeigt. O-Ton einer meiner Studierenden schon vor Jahren: „Das ist ja dort wie vorm Untersuchungsrichter. Da lass ich mir lieber weiterhin einfach ein Rezept von meiner Hausärztin geben, und dann muss die Apotheke das ohne großes Geschwafel rausgeben …“. Das zeigt, dass Beratung zu solch diffizilen Lebenssachverhalten ein höchst sensibles Thema ist, und schnell nach hinten losgehen kann, wenn man es mit der hehren Wissenschaft und Pharmazie übertreibt.

Fazit

Long story short: Zwar bedeutet ein solcher Rx-to-OTC-Switch in der Tat eine hübsche Bedeutungs- und Kompetenzaufwertung der Apotheke. Aber das ist erkauft und wird zumindest monetär höchstwahrscheinlich nicht belohnt. Das gilt umso mehr, je stärker dieses Thema bürokratisch und pharmazeutisch überfrachtet wird. Hier entfaltet der Berufsstand ja gern seine Meisterqualitäten. Wer nach Problemen sucht, wird welche finden – und sie dann zeit- und kostenträchtig an der Backe haben. Maß und Mitte, Vernunft und Augenmaß sind gefragt – und nicht Risikoreduktion um jeden Preis. Diese würde nicht einmal stattfinden, denn überbordende Frageprozeduren werden umgangen. Der Weg der unkomplizierten Verordnung bleibt ja weiterhin, und der Versand lugt eben auch um die Ecke, und sei es auf Rezept …

„Dummheit denkt nicht nur Kompliziertes zu einfach, sondern auch Einfaches zu kompliziert.“  (Beat Rink, Schweizer Theologe und Aphoristiker)

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Prof. Dr. Reinhard Herzog

Apotheker

Apothekenexperte, Fachautor und seit 1993 Lehrbeauftragter an der FH Sigmaringen im Studiengang Pharmatechnik – und dort seit 2020 Honorarprofessor. Herausgeber und langjähriger Autor des AWA.