
Schluss mit Wahlfreiheiten - Ist der bevormundete Patient die Zukunft?
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In den Koalitions-Vereinbarungen zur Gesundheitspolitik unserer künftigen schwarz-roten Regierung verstecken sich unverfänglich klingende Begriffe, die es in sich haben. So heißt es unter anderem: „Die ambulante Versorgung verbessern wir gezielt, indem wir Wartezeiten verringern, das Personal in ärztlichen Praxen entlasten und den Zugang zu Fachärztinnen und Fachärzten bedarfsgerecht und strukturierter gestalten. […] Zu einer möglichst zielgerichteten Versorgung der Patientinnen und Patienten und für eine schnellere Terminvergabe setzen wir auf ein verbindliches Primärarztsystem bei freier Arztwahl durch Haus- und Kinderärzte in der Hausarztzentrierten Versorgung und im Kollektivvertrag. Ausnahmen gelten bei der Augenheilkunde und der Gynäkologie.“
Damit soll also der Hausarzt eine verbindliche „Gatekeeper-Funktion“ bekommen, seine Rolle wird mithin weiter gestärkt und aufgewertet. Nebeneffekt für die Apotheken: Für diese wird der Hausarzt ein nochmals wichtigerer Partner, als er ohnehin heute schon ist. Auf das Verschreibungsvolumen dürfte sich das positiv auswirken. Grundsätzlich sind „Primärarztsysteme“ nichts Neues. Es gibt sie z.B. in Großbritannien oder in den Niederlanden. Viele Länder gehen noch weiter und haben weitaus weniger fachärztliche Doppelstrukturen als wir. Während wir fast alle Facharztdisziplinen sowohl im ambulant-niedergelassenen Bereich als auch in den Kliniken haben, leistet man sich diesen Luxus andernorts in dieser ausgreifenden Form nicht. Dies hierzulande abzustellen, dazu bedürfte es jedoch weitaus mehr Mut, um dem sicheren Sturm der Entrüstung seitens der Praxisinhaber standzuhalten.
Die Argumente für ein Primärarztsystem sind lange bekannt: Das „Doktor-Hopping“ soll eingeschränkt werden, Patienten sollen nicht nach eigenem Gutdünken in Facharztpraxen ihrer Wahl aufschlagen und dort wertvolle Behandlungskapazitäten binden. Eine ärztliche Erstuntersuchung soll die Patientenströme wesentlich effektiver dorthin lenken, wo es medizinisch geboten ist. So weit, so gut. Übrigens: In grauer Vorzeit, vor vielen Jahrzehnten, brauchte man meistens eine Überweisung des Hausarztes. Irgendwann wurden dann „Krankenschein-Hefte“ eingeführt und an die Versicherten ausgegeben. Mit diesen „Scheinen“ in der Hand konnte man zu den Ärzten seiner Wahl gehen. Aus diesen Zeiten stammen auch die Begriffe „Scheinzahl“ und „Scheinwert“, die sich bis heute in der ärztlichen Sprache erhalten haben, denn darauf wurde auch abgerechnet.
Probleme und Ungereimtheiten liegen ebenfalls auf der Hand. Schon heute herrscht vielerorts Hausarzt-Mangel. Es ist die Arztgruppe, bei der perspektivisch der größte Mangel droht, während es in etlichen Facharztbereichen nach wie vor Zuwächse bei den Arztzahlen gibt. Wie sollen nun gerade Hausärzte diese zusätzlichen Aufgaben schultern bzw. noch zusätzliche Patienten aufnehmen? Sicher werden die meisten Menschen hausärztlich versorgt, aber mitnichten alle. Rangeleien drohen auch innerhalb der Ärzteschaft: Fachärzte werden plötzlich viel mehr abhängig von Überweisungen. Den Hausarzt als „Spinne im Netz“ werden daher nicht alle gleichermaßen goutieren. Mancher wird überweisungsfreudiger sein, andere werden mehr klammern und die Patienten an sich binden wollen. Jedenfalls kommt da einiges ins Rutschen, neue Balancen werden sich finden müssen.
Schließlich stellt sich uns die Frage: Wäre nicht ein Primärapothekensystem mit verbindlichen Einschreibungen („Hausapotheken-Modell“) und ganz anderen Honorargrundlagen erstrebenswert? Dies hätte ebenfalls viele Facetten mit Chancen und Risiken, wäre aber nicht zuletzt ein wirksames Mittel gegen den Versand. In jedem Fall sollte die Standespolitik den Ball aufnehmen und eine konsistente Positionierung entwickeln.
Bleibt noch die in unserem System zur Nebensächlichkeit verkommene Frage: Und was sagen die Patienten dazu? Die Begeisterung dürfte sich dort in Grenzen halten, der Widerspruch indes auch. Deshalb wird die Meinung der Patienten nur eine geringe Rolle spielen. Sie sind zwar die Nahrungsgrundlage für alle „Stakeholder“, gleichwohl nicht mehr als das stumme, duldsame Gras, auf dem alle ausgiebig weiden. Den Nanny-Staat in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf.

Prof. Dr. Reinhard Herzog
Apotheker
Apothekenexperte, Fachautor und seit 1993 Lehrbeauftragter an der FH Sigmaringen im Studiengang Pharmatechnik – und dort seit 2020 Honorarprofessor. Herausgeber und langjähriger Autor des AWA.