OTC-Sortiment (Teil 1)

Hoffnungsträger oder hoffnungsloser Fall?


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Die Gegensätze sind unverkennbar: Kaum ein Hochglanzmagazin, welches nicht die riesi­gen Chancen des Barverkaufs betont. De facto stagnieren jedoch die Absatzzahlen und nicht einmal die Verordnungsausschlüsse konnten bisher kompensiert werden.

Im Jahr 2006 erlebte das gesamte Segment der apothe­‑ ken­pflichtigen Arzneimittel (verordnet und Barverkauf) eine Stagnation des Umsatzes und sogar einen spürbaren Rückgang der Packungszah­len um rund 4 % – und das, obwohl sich die Verordnungszahlen im verord­nungsfä­hi­gen Rest­seg­men­t sowie die „grünen Re­zepte“ stabilisiert hatten. Für das Jahr 2007 ist bislang ebenfalls im Wesentli­chen ein Stagnationsszenario zu beobachten. Die Brutto-Um­satz­zu­wächse im gesamten Sortiment resultieren vor allem aus dem für den Gewinn un­be­deu­ten­den Mehrwertsteuereffekt sowie der anhaltenden Strukturkomponente bei den Rx-Prä­paraten. Die Packungszahl steigt hier zudem wieder ein wenig an, um etwa 1 % bis 2 %.

Die Phytopharmaka, lange ein deutsches „Pharmawunder“, verzeichnen ihre Erfolge mittlerweile vor allem im Ausland. In Deutschland stagniert der Absatz, allerdings auf einem im internationalen Vergleich hohen Pro-Kopf-Niveau.

Eine durchgreifende Emanzipation vom fremdbestimmten Verordnungssegment ist das alles nicht. Gleichwohl gibt es sehr erfolgreiche Apotheken, die Jahr für Jahr überproportionale Zuwächse gerade auch im Barverkauf verzeichnen. Diesen steht jedoch eine ganze Anzahl von Betrieben gegenüber, die überproportional verlieren. Wir sind in einem sehr harten Verdrängungs­wett­bewerb angekommen, gerade im OTC-Geschäft. Die hochfliegenden Prognosen der 1990er-Jahre haben sich nicht bewahrheitet. Der Markt entwickelt sich nicht so, dass er noch alle automatisch mit nach oben zieht. Neue Mitspieler aus der Drogeriemarkt- und Einzelhändlerszene machen das alles nicht einfacher.

Neue Marktsegmente können vor Preiskampf schützen

Das bedeutet aber umgekehrt: Wird nun plötzlich die Mehrzahl der Apotheken so aktiv, wie es immer von interessierten Kreisen empfohlen wird, droht der berühmte Kinoeffekt: Wenn einer aufsteht, sieht er besser. Stehen alle auf, se­hen wieder alle gleich schlecht – und müssen zudem noch stehen. Die spannende Frage dabei ist, wie viele Betriebe wie lange unbequem stehen könnten. Die Verdrängungs­intensität würde in jedem Fall zunehmen. Die Gefahr, dass dies über das einfachste Werkzeug – den Preis – läuft, ist dabei groß.

Eine Lösung aus diesem Dilemma kann darin bestehen, neue Marktsegmente zu erschließen. Expansionsmöglichkeiten bestehen beispielsweise in Bereiche wie Medizintechnik und Elektronik, Wellness und Fitness, der Bio­welle sowie dem immer umfangreicheren Datenhandling mit Lotsen- sowie Management­funktionen bei anspruchsvol­leren Therapien und Multimorbiditäten.

Novitätenschwemme

Aber erhalten wir nicht schon täglich genug „Innovationen“ auf den Tisch? Zwischen 2.000 und 3.000 Neuerungen spült uns die Industrie jährlich im Barverkauf in die Apotheken, darunter freilich so profane Dinge wie neue Aufmachun­gen, Änderungen an der Darreichungsform, eine neue Geschmacksrichtung – das beliebte Spiel mit den „Line Extensions“. Das illustriert aber andererseits die nach wie vor enorme Bedeutung der Apotheke bei den Gesundheitsprodukten vor allen anderen Vertriebskanälen, nicht nur nach Umsatzanteil, der bei rezeptfreien Arzneimitteln und auch im „Gesundheitsmittelbereich“ bei über 80 % liegt.

Zudem beträgt der durchschnittliche Packungswert allein in den Barverkaufssegmenten ein Mehrfaches im Vergleich mit den Drogeriemärkten und erst recht mit den Lebensmittelhändlern (nämlich etwa 7 € bis 8 € netto versus etwa 2 € bis 3 € bei der Nicht-Apotheken-Konkurrenz). Kein Wunder, dass es von dort neidische Seitenblicke gibt... Lediglich im „mass market“, vor allem bei Vitaminen und Mineralstoffen sowie bei Erkältungspräparaten (Hustenmittel!), erzielen die Nicht-Apotheken nach Stückzahlen erhebliche Absatzerfolge.

Damit sind wir schon mitten in der Praxis. Wie gehen Sie mit der „Novitätenschwemme“ um? Und weitergedacht: Wie wählen Sie überhaupt die geeigneten OTC-Präparate aus? Heute funktioniert es noch überwiegend nach dem „Push-Prinzip“: Der Vertreter erscheint, präsentiert sein An­gebot. Nicht wenig Raum nehmen dabei die „Konditionen“ ein (worauf in einem Folge­beitrag noch näher eingegangen wird), daneben Markenstärke, Absatzzahlen nach IMS bzw. Nielsen, das Erscheinungsbild der Packungen. Alternativ schlagen vermehrt Kooperationen die Produktauswahl vor.

Selbstkritik ist gefragt

Und der Kunde? Der nimmt, was er eben vorgesetzt bekommt oder aber selbst schon kennt und exakt so nachfragt. An dieser Stelle sei daher an die Fähigkeit zur Selbstkritik appelliert: Steht bei Ihrer Produktauswahl der Kundennutzen im Vordergrund oder sind es Gewinnabwägungen? Ist es gar reine Bequemlichkeit (die Regalbestückung übernimmt periodisch die Firma XY, ansonsten lasse ich das im Betrieb von Frau A oder Herrn B machen)?

Kundenorientierte OTC-Empfehlung

Wer ein Geschäft betreibt, sollte hinter seinen Empfehlungen stehen und sich um die Warenauswahl und -präsen­tation persönlich kümmern. Dies ist eine zentrale Aufgabe eines jeden unabhängigen Einzelhändlers. Sicher kann eine professionelle Beratung zusätzliche Erkenntnisse vermitteln und Schwachstellen aufdecken. Doch ist zunehmend (sicherlich nicht überall!) eine gewisse Bequemlichkeit zu beobachten: Da dominieren die Schaufenster „von der Stange“, ist die Sicht- und Freiwahl fremd- bzw. industriegesteuert, werden Angebote und die berühmten „Flyer“ einfach eins zu eins von irgendwoher übernommen.

Mag sein, dass die Kolleginnen und Kollegen durch die überbordende Bürokratie und die politisch motivierten Belastungen im Betriebsalltag über­fordert und bisweilen auch demotiviert sind. Im Hinblick auf die andererseits immer wieder hochgehaltene Unabhängigkeit und Selbstständigkeit ist dies jedoch kein gutes Zeichen.

Eine kundenorientierte Produktauswahl hat sich als erstes an den Bedürfnissen, ergo den dominierenden Indikationen und Problemstellungen, zu orientieren. Das Marktpotenzial errechnet sich dabei als Produkt aus möglicher Kun­denzahl mal dem indivi­duellen Leidensdruck. Für den ersten Faktor gibt es zahlreiche Anhaltswerte (dazu später mehr), der Leidensdruck dagegen ist individuell sehr unterschiedlich.

Unangenehme Sym­pto­me bei Erkältung, Durchfall, Magen­verstimmun­g usw. lassen den Gang in die Apotheke (und zwar die Präsenzapotheke!) antreten und Rat dankbar annehmen. Der Preis ist dann meist weniger wichtig, Hauptsache, das Mittel wirkt. Bisweilen werden kleine Wunder erwartet, so bei Berufs­tätigen, und das möglichst sofort. Das bedeutet: verlässliche Wirkung bei überschaubaren, ggf. individuell abgeprüften Risiken zu einem vernünftigen, auch der jeweiligen Kaufkraft des Kunden angemessenen Preis.

Das ist Ihre Chance, Kom­petenz, Patientennutzen und Betriebswirtschaft in Einklang zu bringen. Nur – machen Sie sich bitte etwas mehr Gedanken und präsentieren Sie nicht nur das Sortiment von XY (welches eben den besten Rabatt im Direkteinkauf brach­te), ergänzt vielleicht um ei­‑ nen Zusatzverkauf („Hustentee zum Grippemittel“). Freilich haben diese „Mega-Indikationen“ einen Haken: Alle stürzen sich darauf. Die Konkurrenz ist groß, unter Apotheken wie Pharmaherstellern. Dennoch sind sie das Basisinvestment in jedem OTC-Management.

Dauerverwender: Die Asse im OTC-Geschäft

Der Wunschtraum jedes Apothekers sind aber zweifellos diejenigen Kunden, die Monat für Monat ihre Rationen an Vitaminen und den zahlreichen sonstigen Ergänzungsstoffen sowie natürlich den allfälligen Bedarf an den üblichen „Hausmitteln“ holen und dabei jeweils 40, 50 oder mehr Euro in der Apotheke lassen. Gemessen am durchschnittlichen OTC-Umsatz pro Kopf der erwachsenen Bevölkerung von etwa 7 € bis 8 € monatlich ist dies ein schöner Mehrumsatz. Diese Kundenschicht gibt es, sie ist jedoch relativ klein. Warum nur?

Nun, zum einen spielt die lokale Kaufkraft eine Rolle. Eine Apotheke in den „Nobelvororten“ großer Städte wird sehr erfreuliche Barumsätze mit vielen ihrer Kunden verzeichnen können. Betriebe auf dem „platten Land“ oder in Problemregionen stoßen dagegen oft schon bei Artikeln über 10 € auf die Ablehnung eines Großteils der Kundschaft, nicht nur kaufkraft-, sondern bisweilen auch mentalitätsbedingt.

Andererseits wird das Potenzial von den meisten Apotheken nicht ausgeschöpft – weil sie sich selbst nicht genug Gedanken darüber machen, was eigentlich möglich wäre.

Die entscheidenden Fragen dabei lauten:

  • Welche Probleme haben meine Kunden, welche können absehbar auf sie zukommen, wie ist überhaupt ihr Wissensstand und welche Lösungen erwarten sie demzufolge?
  • Was können wir anbieten, zu welchem Preis mit welchen realistischen Erfolgs­chancen?

Umfassende Problemlösung

Viele werden nun sagen: „Das machen wir doch schon, das wissen wir doch alles, das ist unser tägliches Geschäft...“ Doch machen Sie es sich nicht zu einfach, verwechseln Sie eine schlichte Präparateempfehlung nicht mit einer umfassenden Problemlösung und Begleitung. Wir reden hier nicht vom banalen Erkältungskopfschmerz oder Schnupfenspray. Wir reden hier von Dingen wie beispielsweise

  • der signifikanten Risiko­reduktion von Herz-Kreis­lauf­-Erkrankungen,
  • desgleichen bei Diabetes bzw. der Begleitung bei bereits bestehender Krankheit,
  • der Adaption an eine zunehmend anspruchsvollere und komplexere Leistungswelt,
  • dem Erhalt der geistigen Vitalität (eng assoziiert mit dem Herz-Kreislauf-Thema),
  • dem Erhalt der körperli­chen Attraktivität und der Beherrschung von Schönheitsmakeln (Stichworte Haut und Haare) sowie
  • verschiedensten Formen der Regulation innerer (Stoffwechsel-)Gleichgewichte.

Denken Sie nur beispielhaft an das Thema Haut: Da wird Ihnen die Kosmetikserie X, die Hautcreme A, B, C einfallen – Produkte, die viele Ihrer Kunden bereits kennen. Doch vor allem chronische Hautpro­ble­me können auch mit Stoffwechselproblemen, mit Darmstörungen, seelischen Kon­flik­ten, Ernährungsgewohnheiten, einem Mangel an gewissen Mikronährstoffen oder ungesättigten Fettsäuren assoziiert sein – übrigens alles Dinge, die in der unter chronischem Zeitmangel leiden­den Kassen-Hautarztpraxis oft zu kurz kom­men (müssen). Es gibt zudem manche physikalische Verfahren und Bestrahlungsgeräte auch für den Hausgebrauch. Was für ein Betätigungsfeld unter diesem er­weiterten Blickwinkel! Idealerweise geschieht dies in Absprache mit dem Arzt, der für diese Details die Zeit einfach nicht aufbringen kann...

Bereits diese wenigen Zeilen sollten verdeutlicht haben: Das OTC-Geschäft bietet noch große Chancen – wenn Sie sich von der Wortbedeutung „Over The Counter“ ein we­‑ nig lösen und nicht nur den „Counter“ und die Packung sehen, sondern denjenigen, der Ihnen gegenübersteht.

Teil 2 der Serie in der nächsten AWA -Ausgabe vom 15. Januar 2008 behandelt die Markt­bedeutung von OTC und die ökonomischen Chancen.

Dr. Reinhard Herzog,

Apotheker, 72076 Tübingen,

E-mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2008; 33(01):5-5