Der neue Zeitgeist

Vom Scheitern an eigenen Messlatten


Prof. Dr. Reinhard Herzog

„Über dem Süden lacht die Sonne, über Deutschland lacht die Welt“ – dieser Spruch ist so oft zitiert, dass er schon einen Bart hat. Offenkundig scheint aber mehr als nur ein Körnchen Wahrheit daran zu sein. Scheitern an ernsten Aufgaben ist die neue Tugend. Über das WM-Aus kann man spielerisch lächeln, über das Gezerre um Migration und EU-Politik sowie vergeigte Großprojekte schon weniger, und das Lachen vergeht vollends, wenn man die Wettbewerbsfähigkeit von immer mehr Industriezweigen dahinschwimmen sieht, nicht zuletzt befördert durch einen stets noch steigerbaren Vorschriften- und Bürokratie-Irrsinn sowie die Launen von Justitia.

Nun werden viele meinen, dass wenigstens unsere Branche auf der sicheren Seite weilt. Zig Vorschriften und Kontrollen sollen die angedachte Wirkung – die zuverlässige Versorgung mit sicheren Arzneimitteln – garantieren. Überwiegend tun sie das auch. Doch in Anbetracht der enormen und teils grotesken, pseudoreligiöse Züge tragenden Regulierungsdichte, die auch das tägliche (Apotheken-)Leben empfindlich beeinträchtigt, versagt das System trotzdem immer wieder in beachtlicher Weise. Nur wird dies wenig thematisiert. Damit passen wir uns dem Zeitgeist an: Viel gackern, kräftig auf der Stelle mit den Flügeln schlagen (in praxi heißt das: immer mehr sinnfreie „Scheinarbeiten“ verrichten), aber unter dem Strich immer weniger wirklich für Kunden und Gesellschaft leisten. Das Resultat ist ein drastisch steigender Aufwand für eine sinkende Erfolgsbilanz – der klassische Fall vom „abnehmenden Grenznutzen“.

Bereits auf der Logistikebene hakt es, wie die sich häufenden Lieferengpässe zeigen. Wer dies auf die „Geil-ist-geil-Mentalität“ der Kassen zurückführt, erfasst einen Teilaspekt, aber mitnichten die gesamte Problematik. In anderen, marktwirtschaftlich funktionierenden Branchen wird härter um Preise bei garantierter Qualität gerungen, ohne dass es größere Ausfälle gäbe. Unser Erstattungssystem aber mit seinen zig Preisregulierungsmechanismen und seiner Vielzahl von Nachfragern auf Kostenträgerseite steckt in einer Komplexitätsfalle, der man mit einer inkompatiblen Kombination aus einer Art Planwirtschaft und teils irrationalem Effizienzdruck auf die Leistungserbringer entkommen will. So das Optimum aus einem System herausquetschen zu wollen, funktioniert nur mit erheblichen Nebenwirkungen. Dabei meinen es alle ja nur gut und geben sich durchaus Mühe. Man kann den Einzelnen also keine großen Vorwürfe machen. Sie agieren in einem zunehmend insuffizienten System, das im Moment nur dank sprudelnder Einnahmen einigermaßen stabil ist.

Desaströs wird es jedoch bisweilen an anderen, das Wohlergehen der Kunden ernsthaft tangierenden Stellen. Da kann ein Apotheker tausende Sterilrezepturen panschen und zweistellige Millionenbeträge abzweigen – es fällt jahrelang nicht auf. Eine Hinterhof-Bude liefert en masse Zytostatika-Packungen von zweifelhafter Herkunft – läuft! Einer der wichtigsten Wirkstoffe ist seit Jahren verunreinigt. Viel zu spät entdeckt, folgen „Gackern und Flügelschlagen“. Wochenlang war außer – im wahrsten Sinne der Worte – „substanzlosem Gefasel“ nichts zu hören. Im weltweit größten Wirtschaftsraum namens EU samt viertgrößter Industrienation Deutschland ist es scheinbar nicht möglich, den Allerwelts-Wirkstoff Valsartan zeitnah (!) zu analysieren und klärende Fakten zu liefern, ob und welches Gefährdungspotenzial tatsächlich besteht. Die Bestimmung einer Verunreinigung wie N-Nitrosodimethylamin – zwar kaum UV-aktiv, aber sehr wohl analytisch fassbar – sollte nun wirklich unsere ganzen Institutionen, von Landesuntersuchungsämtern über das Zentrallaboratorium bis hin zu Hochschulen, nicht vor unlösbare Probleme stellen, zumal wohl nur ein Wirkstoffhersteller betroffen ist. Erst jetzt, etliche Wochen später, tröpfeln die ersten mageren Ergebnisse ein.

Genau auf dieses immer stärker zutage tretende Missverhältnis von Anspruch und Wirklichkeit sowie auf völlig fehlgeleitete Ressourcenallokationen mit grotesken Aufwand-Nutzen-Relationen sollte der kluge Beobachter achten. Das zieht sich nämlich inzwischen durch die gesamte Gesellschaft. Der Abstieg des „Superstars“ Deutschland und sein Ausbluten scheinen vorgezeichnet, mit allen Konsequenzen für die Unternehmensführung, die Unternehmenswerte und die Kapitalanlage.

Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2018; 43(15):19-19