Umgang mit Risiken

Aus Angst vor dem Unfassbaren


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Zuletzt war es der Valsartan-Skandal, der das Thema Risikoeinschätzung und die Identifizierung schwer erkennbarer Fehler ins Bewusstsein gerückt hat. Der Umgang mit vermeidbaren und unausweichlichen Risiken zieht sich dabei durch weite Bereiche des Lebens und Betriebs.

Der rationale Umgang mit Risiken liegt den Menschen fern. Zu sehr greifen tiefe psychologische und elementare evolutionäre Überlebensmechanismen, die nüchterne Vernunft bleibt auf der Strecke. Das zeigen die Reaktionen auf Naturkatastrophen, Unfälle oder Verbrechen. Dramatisch verstärkt wird dies durch die heutige Medienlandschaft.

Was früher nur in der Regionalausgabe einer Zeitung erschien (und damit den meisten Bürgern in weiterer Entfernung schlicht verborgen blieb), ist heute via Internet weltweit präsent. Entsprechend passiert der subjektiven Wahrnehmung nach immer mehr, obwohl die Risiken in den meisten Lebensbereichen während der letzten Jahrzehnte signifikant gesunken sind!

Ein weiterer Panikbeschleuniger ist die ausgefeilte Analytik. Man kann heute geringste Substanzmengen nachweisen und findet Schadstoffe in den entlegensten Winkeln. Doch Vieles bewegt sich weit unterhalb der Wirkschwellen, wird aber dennoch medial hochstilisiert.

Beim Valsartan-Skandal erstaunt, dass die Folgen einer Wirkstoff-Syntheseumstellung seit Jahren nicht bei den Verantwortlichen „auf dem Schirm“ waren. Das reine Patientenrisiko ist indes auch hier sehr gering – maximal etwa 1:30.000 für eine Krebserkrankung durch die N-Nitrosodimethylamin (NDMA)-Verunreinigungen binnen eines Valsartan-Patientenjahres.

Das natürliche jährliche Krebsrisiko liegt selbst bei Jüngeren im Bereich von mehr als 1:1.000, bei Älteren bei 1:100 oder noch höher. Insgesamt dürfte durch verunreinigtes Valsartan in Deutschland eine niedrig zweistellige Zahl an Patienten jährlich zusätzlich an Krebs erkrankt sein – bei rund 500.000 Neuerkrankungen insgesamt.

Abbildung 1 zeigt diverse Lebensrisiken für zwei Lebensalter und geschlechtsspezifisch gegenübergestellt; die jährlichen prozentualen Risiken entsprechen der jeweiligen Fläche der Kreise. Die Valsartan-Punkte sind hier kaum mehr zu erkennen!

Nun mögen Sie einwenden: Jeder Erkrankte ist einer zu viel! Jedes Leben zählt! Das sollte man fraglos so sehen. Doch was ist die Alternative? Was müsste geändert werden, um die Restrisiken auszuschalten (ganz überwiegend sind unsere Arzneimittel auch aus dem Ausland sicher)? Genau da sind wir am Punkt der Risikovermeidungs- oder Risikominimierungskosten im Verhältnis zum Nutzen. Hier wird es für die tägliche Praxis interessant, gerade in der sicherheitsaffinen Apothekenlandschaft!

Risikoidentifikation

Am Anfang stehen die Identifikation, Bewertung und Quantifizierung möglicher Risiken im Betrieb. Im Rahmen innerbetrieblicher Prozessoptimierung bietet sich z.B. die Failure Mode and Effect Analysis (FMEA) an. Hier wird ein Risiko-Score (Risikoprioritätszahl [RPZ]) gebildet. Zu seiner Ermittlung werden die folgenden Einflussfaktoren in Form von Punktwerten (auf einer Skala von 1 bis 10) miteinander multipliziert:

  • die Auftretenswahrscheinlichkeit (1=sehr niedrig, 10=maximal hoch),
  • die Entdeckungswahrscheinlichkeit (1=maximal hoch, 10=sehr niedrig, also andersherum als oben!) und
  • die Schwere des möglichen Ereignisses (1=sehr niedrig, 10=maximal hoch).

Je höher der RPZ-Wert (Maximum: 1.000=10∙10∙10), umso „drängender“ ist das jeweilige Problem und umso mehr sind rasche und wirksame Maßnahmen zur Reduktion gefragt. Dazu gilt es, möglichst an allen drei „Stellschrauben“ zu drehen („Maßnahmenbündel“), also

  • die Auftretenswahrscheinlichkeit durch sorgfältiges Arbeiten zu vermindern (z.B. durch höhere Rezepturqualität, Minimierung von Falschabgaben),
  • die Entdeckungswahrscheinlichkeit durch mehr Kontrollen zu erhöhen und
  • die mögliche Ereignisschwere zu vermindern, indem z.B. bei Hochrisiko-Produkten besonders genau hingeschaut wird.

Dagegen sind stets die Risikovermeidungskosten zu stellen. Irgendwann ergibt ein noch höherer Aufwand kaum mehr Sinn – die Kosten steigen exponentiell, der Nutzen wächst nur noch wenig. Das zeigt, wie wichtig es ist, Risiken zu priorisieren.

Etliche Risiken kommen von außen auf die Apotheke zu. Hier müssen Sie klug reagieren, vermitteln, kommunizieren – wie in der Valsartan-Affäre, und zwar gegenüber Kunden wie Mitarbeitern. Einige Praxishinweise finden Sie im Zusatz unten "Risiken erörtern im Kundengespräch".

Gefahr der Überbewertung

Durch eine übersteigerte Risiko- und Schadenspotenzial-Wahrnehmung können Sie im täglichen Betrieb enorme Ressourcen verschleudern! Beispiele sind der Kontrollaufwand zur Retaxationsabwehr (durch moderne Technik und gegebenenfalls Rezeptwertschwellen minimierbar), das „Kassemachen“ (Korrektheit und Effizienz müssen sich nicht ausschließen) sowie der „Tatort Labor“ mit diversen Grotesken und Umständlichkeiten. Hier soll jetzt keinesfalls der Schlamperei das Wort geredet, sondern Vernunft und Augenmaß angemahnt werden!

Machen Sie gerne Mücken zu Elefanten, dürfen Sie sich über die Ressourcen-Fehlallokation nicht wundern. Die Mitarbeiter fokussieren sich dann ängstlich auf Ihr Geheiß hin darauf und lassen rechts wie links die Chancen und Erträge liegen! Die Lösung liegt wieder in Prioritätenlisten nach Schadenspotenzial und Aufwand zur Vorbeugung bzw. Problembehebung.

Das größte Risiko läuft übrigens auf zwei Beinen: Es sind regelhaft Sie selbst und Ihr persönliches Ausfallrisiko! Haben Sie Ihren Betrieb schon entsprechend auf Ihr mögliches Ausfallen vorbereitet?

Risiken erörtern im Kundengespräch

1. Ausgangslage anerkennen

Ängste und Gefühle, auch irrationale, sollten Sie ernstnehmen und dies dem Patienten zeigen. Sonst geht er auf Distanz, da er sich unverstanden fühlt. Der Appell an die Ratio sollte jedoch alsbald folgen; Angst ist zwar etwas Natürliches, darf aber nicht beherrschend werden.

2. Risiken durch plastische Vergleiche einordnen

Wählen Sie zur Erläuterung der individuellen Risikolage plastische Vergleiche aus der täglichen Lebensrealität (z.B. die vielfältigen üblichen Lebensrisiken). Was passiert täglich so alles in der Umgebung des Patienten? Im Falle Valsartan würde demgegenüber z.B. maximal ein zusätzlicher Krebsfall jährlich im ganzen Rhein-Main-Gebiet auftreten ...

3. Mögliche Erfolge aufzeigen

„Durch die regelmäßige Einnahme reduzieren Sie Ihr Infarktrisiko im Schnitt um etwa 50%!“ – so etwas kann sehr motivieren. Aber Sie dürfen auch mal den Zeigefinger zur Compliance-Steigerung maßvoll heben: „Lassen Sie Ihre Medikamente weg, steigt Ihr bereits hohes Grundrisiko für einen Schlaganfall im jährlichen Prozentbereich auf etwa das Vierfache …“

4. Relative Risikoänderungen nicht dramatisieren

Halten Sie relative Risikoveränderungen und absolute Risiken sorgfältig auseinander! Durch eine Medikamenteneinnahme kann sich z.B. das Thromboserisiko verdreifachen (das klingt dramatisch), aber absolut und personenbezogen steigt es nur von 0,1 Promille auf 0,3 Promille je Behandlungsjahr – und bleibt damit gering.

5. Problem „Risikotausch“ bei vielen Therapien

Oft werden bei Therapien schlicht Risiken getauscht: Der erwünschten Wirkung bzw. Risikoreduktion (z.B. für einen Schlaganfall bei Gerinnungshemmern) steht eine Risikoerhöhung entgegen (im Beispiel ein höheres Blutungsrisiko). Dies überzeugend gegeneinander abzuwägen bzw. überhaupt aufzuhellen ist Bestandteil eines erstklassigen Medikationsmanagements und sodann eine Frage kluger Kommunikation mit dem Patienten.

Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2018; 43(18):4-4