Krankenkassen-Rücklagen

20 Mrd. Euro – viel oder wenig?


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Stolze 20 Mrd. € betragen die Rücklagen der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) inzwischen etwa, zuzüglich rund 10 Mrd. € im Gesundheitsfonds. Etwa 3,5 Mrd. € des Überschusses wurden allein im letzten Jahr eingefahren. Diese Summen haben bereits das Gesundheitsministerium auf den Plan gerufen, die Kassen sollen lieber ihren Zusatzbeitrag senken als weiter Geld mit zunehmender Tendenz zu horten. Andere Player möchten das Geld eher für Leistungsausweitungen oder Honorarerhöhungen verwenden – je nach eigener Position im Gesundheitswesen.

Vorhandenes Geld weckt eben immer Begehrlichkeiten. Insoweit ist es politisch klüger, Haushalte auf Kante zu nähen oder gar in einen leichten Verlust zu steuern. So lassen sich Wünsche mit Verweis auf mangelnde Mittel schnell abbügeln: Knappheit als Disziplinierungsmaßnahme – und sei sie künstlich induziert. Auch das ist nicht neu: Selbst Jagdhunde hält man nahrungsmäßig knapp, Falken werden gezielt auf ihr optimales Jagdgewicht getrimmt und Firmen machen sich arm bzw. verschieben ihr Geld kunstvoll, um die Lohnwünsche ihrer Belegschaft klein zu halten: "Lerne klagen, ohne zu leiden" – umso mehr, je mehr Du hast.

Indes schwimmen nicht alle Krankenkassen im Geld: Bei den noch rund 110 gesetzlichen Kassen sehen die Bilanzen sehr unterschiedlich aus. Auch hier gibt es den Trend zur Größe: Starke Kassen haben z.B. bei Rabattverträgen die besseren Karten und können Risiken breiter streuen als kleinere, womöglich noch regional verhaftete Versicherer.

Doch sind 20 Mrd. € GKV-Finanzreserven, mit dem Gesundheitsfonds rund 30 Mrd. €, nun übermäßig viel? Im laufenden Jahr dürfte die 240-Mrd.-€-Marke der Gesamtausgaben erreicht werden. Die Reserven decken also die Ausgaben für etwa vier bis maximal sechs Wochen. Pro Versichertem reden wir über Rücklagen von 275 € (bzw. gut 400 € mit Gesundheitsfonds). Zum Vergleich: Im viel kleineren Kollektiv der Privatversicherten (ca. 8,75 Mio. Vollversicherte) stecken zwischenzeitlich und immer noch wachsend rund 250 Mrd. € an Rückstellungen für die Kranken- und Pflegeversicherung. Das sind gut 28.000 € pro Vollversichertem. Zwar reden wir über verschiedene Geschäftsmodelle: In der GKV die Umlagefinanzierung, in der privaten Krankenversicherung (PKV) ein gemischtes System aus Beitragsfinanzierung und Altersrückstellungen – dennoch sind die Unterschiede eklatant.

Vergessen wir nicht: Der Geldsegen der gesetzlichen Sozialversicherungen ist eng mit dem Arbeitsmarkt verwoben, und der entwickelt sich seit Jahren sehr erfreulich. Doch nirgends wachsen die Bäume in den Himmel. Im Falle eines Konjunkturrückgangs und wieder steigender Arbeitslosigkeit wird aus dem Überschwang schnell eine Depression. In grober Näherung bedeutet jeder Arbeitslose im Durchschnitt 2.000 € bis 2.500 € Mindereinnahmen allein für die Krankenversicherung. Mit dem Abrutschen in das Arbeitslosengeld II ("Hartz IV") wird die Lage noch dramatischer, denn die dort entrichteten Beiträge von zurzeit noch knapp 100 € monatlich pro Mitglied decken den Bedarf von im Schnitt 4.300 € je Zahler bei Weitem nicht. Man kann schnell überschlagen, wie rasch aus Milliardenüberschüssen dann wieder Milliardendefizite werden, zumal rezessionsbedingt geringere Anstiege der Löhne sowie weiterer Druck auf die Lohnsummen von verschiedenen Seiten (wie durch Kurzarbeit, Stundenkürzungen, Stellenumbesetzungen etc.) zusätzlich dämpfend wirken.

Vergleichen Sie die Rücklagen mal mit Ihrer privaten oder betrieblichen Sphäre: Eine "eiserne Reserve" in Höhe des Nettoeinkommens von sechs Wochen ist nicht viel. Starke Betriebe verfügen über einen Liquiditätspuffer in Höhe eines Rohertrages oder zumindest der Gesamtkostensumme aus diesen sechs Wochen. Andererseits ergibt es ökonomisch keinen Sinn, zu viel Geld quasi nicht investiert und "nutzlos" herumliegen zu lassen.

Der Neid auf die "gewaltigen Reserven der Kassen" und die Begehrlichkeiten sollten also einer nüchternen Betrachtung weichen. Die Finanzlage ist zurzeit entspannt, und es wäre sicher grotesk, an der letzten Kleinigkeit verbissen zu sparen. Ein nachhaltiger Spielraum für die große Ausgabenparty ist freilich ebenfalls nicht vorhanden.

Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2018; 43(20):19-19