Neue Marktdaten

Von Wirkstoffen, Stammkunden und Fremdgängern


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Für ihren "Arzneimittelreport" hat die BARMER-Krankenkasse auch in diesem Jahr ihre Arzneimittelverordnungen ausgewertet. Aufmerken lassen die Erhebungen zur Einlösung der Rezepte sowie zu den verordnenden Ärzten – gibt es überhaupt noch die "Stamm-Apotheke"?

Die Basis der Auswertungen bilden 8,3 Mio. BARMER-Versicherte, was 10% der Bevölkerung und 12% der gesetzlich Krankenversicherten entspricht. Beachtliche 62% dieser Personen haben mindestens eine chronische Erkrankung, 33% leiden gar an fünf oder mehr chronischen Krankheiten; somit sind knapp 40% (noch) keine "Chroniker".

Auf Werten von 2016 basierende Spezialauswertungen zum Thema "Arzneimitteltherapiesicherheit" machen einen großen Teil des diesjährigen Arzneimittelreports aus. So wurden die für Apotheken besonders interessanten "High-Level-User" mit mindestens fünf verordneten Wirkstoffen (Patienten mit "Polypharmazie") im Detail analysiert. 24,3% aller Versicherten gehören in diese Gruppe, mit 62% überwiegt hier, wie bei Apothekenkunden generell, der Frauenanteil deutlich. Je Apotheke sind das grob hochgerechnet einschließlich der zusätzlichen Privatpatienten 1.000 Kunden. Gut die Hälfte davon erhielt die hohe Wirkstoffanzahl aber für maximal ein Quartal im Auswertejahr verordnet. Nur bei einer kleinen Minderheit (nämlich 4,7% der Versicherten, 200 Kunden je Apotheke) erfolgte die Vielstoff-Therapie dauerhaft, d.h. für den größten Teil des Jahres (>272 Tage). Bei der Mehrzahl handelte es sich also zum Teil lediglich um temporäre bzw. Akut-Verordnungen. Bei etwa jedem siebten Polypharmazie-Patienten waren mehr als fünf verordnende Ärzte involviert, bei 57% konzentrierten sich die Verordnungen immerhin auf maximal drei Ärzte. Die Notwendigkeit der besseren Koordination und einer zentralen Medikationsdatei liegt somit auf der Hand.

Die Betrachtung der verordneten Wirkstoffe fördert Überraschendes zutage. Rund 1.800 verschiedene Arzneistoffe erhielten BARMER-Versicherte im Jahr 2016. Fast 1.500 davon – gut 80% der Stoffe – wurden aber jeweils weniger als 10.000 Patienten oder 0,12% der Versicherten verordnet (Abbildung 1), beachtliche 70 Wirkstoffe gar jeweils nur einem einzigen (!) Patienten. Umgekehrt wurden mit gerade einmal 78 Arzneistoffen oder 4% des Wirkstoffspektrums jeweils mehr als 500.000 Menschen – entsprechend jeweils 6% der Versicherten – versorgt, und vier Arzneistoffe wurden über 1 Mio. BARMER-Patienten bzw. mehr als 12% der Versicherten zuteil. Das zeigt die enorme Konzentration auf der einen Seite (daher die Wirksamkeit der Rabattverträge) und die immer weitere "Zersplitterung" auf teure Spezialpharmaka auf der anderen Seite.

Für die Praxis bedeutet das, dass Sie bereits durch die Fokussierung auf recht wenige Wirkstoffe (siehe auch die "Top 10" in Abbildung 1) mit ihren jeweiligen unerwünschten Neben- und Wechselwirkungen im Beratungsalltag sehr viel bewirken können. Solche Zahlen umreißen zudem das Thema "Medikationsmanagement".

Besuchte Apotheken

Die weiteren Auswertungen zeigen, dass es nur die eine "Stammapotheke" in aller Regel nicht gibt (Tabelle 1). Selbst Hochbetagte suchen überwiegend mehr als eine Apotheke auf und sind insoweit ähnlich mobil wie Durchschnittsversicherte – doch kontaktieren sie erwartungsgemäß noch mehr verschiedene Ärzte. Allerdings zeigen die Auswertungen auch, dass 70% der Polymedikations-Patienten mindestens 75% der Rezepte doch in nur einer Apotheke einlösen, selbst wenn sie etliche andere ebenfalls besuchen. Der Konzentrationseffekt ist also hoch. "Fremdgänge" dürften daher in erster Linie selteneren Rezepten von weiter weg liegenden Fachärzten geschuldet sein.

Konsequenzen

Also "alles in Butter"? Nicht ganz. Zusammen mit dem hohen Konzentrationseffekt der Arzneimittelkosten (2,7% der Versicherten mit Verordnungen verursachen die Hälfte der Fertigarzneimittelkosten, pro Apotheke sind das inklusive Privatkunden gerade mal etwa 90 Personen) kommt der Top-Kunden-Selektion sowie ausgefeilten Kundenbindungsprogrammen eine hohe Bedeutung zu, erst recht in wettbewerbsintensiven Stadtlagen.

Die Zahlen zeigen nämlich eines sehr klar: Die Kunden haben nicht nur, sie sehen auch konkret Alternativen, wenn sie mehrere Apotheken besuchen – und sei es lediglich für eine Gelegenheits-Verordnung. Sehr schnell können sie also bei besserer Bedienung "switchen" und aus ihrer bisherigen "Hauptapotheke" den "Nebenlieferanten" machen – so wie Sie das mit dem Großhandel tun. Und in diesen Betrachtungen ist der Einfluss des Versandhandels noch gar nicht erfasst!

Praxishinweise

Streng anonym gehaltene Rezeptauswertungen sind auch im Zeitalter des Datenschutzes möglich, und das sollten Sie von Zeit zu Zeit nutzen. Dazu gehen Sie von einem gut aufgelösten Stadt- oder Umgebungsplan aus: Zuerst markieren Sie darauf alle Ärzte durch Punkte. Die jeweilige Verordnungsbedeutung für Ihre Apotheke können Sie Ihren Rezeptabrechnungen entnehmen. Dementsprechend können Sie die Punkte größer oder kleiner setzen – und sehen vielleicht bereits interessante Zusammenhänge. Spannend wird es, wenn sich z.B. die Hauptverordner weiter weg befinden und womöglich trotz gleicher Fachrichtung diejenigen im Haus übertreffen. Was läuft da schief bei der Kommunikation? Oder ist die entfernt liegende Praxis sehr verordnungsstark mit vielen Patienten, während der Arzt im Haus nur wenige "Scheine" hat?

Über einen beschränkten Zeitraum auf der Basis von vielleicht 200 bis 300 Rezeptkunden können Sie nun die Kundenadressen markieren. Das zeigt Ihnen recht gut Ihr Einzugsgebiet auf – und von woher die Kunden kommen. Aufwendiger, aber ebenfalls durchaus aufschlussreich ist es, Arztadresse und Kundenadresse abzugleichen. Haben die Kunden das Rezept zu Ihnen gebracht, obwohl es Apotheken gibt, die näher an der Praxis liegen? Kommt das häufig oder selten vor?

Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf diverse Auswertemöglichkeiten der Rezeptabrechnungszentren (allerdings ohne Privatrezepte). Hier liegen die Daten ja digitalisiert vor. Machen Sie sich also vorab schlau über entsprechende Tools, bevor Sie alles selbst von Hand erledigen.

Im Tagesgeschäft sollten Sie unabhängig von einer solchen Rezeptanalyse immer prüfen, ob das vorliegende Rezept von einer weiter entfernten Arztpraxis stammt – und wie das zum Wohnort des Kunden passt. Diesen gegebenenfalls "Fremdgänger" gilt es dann besonders zu locken, zu überzeugen und somit zu erobern.

Selbstredend dürfen dabei jedoch nicht Ihre guten Kunden aus der näheren Umgebung auf der Strecke bleiben. Eine beliebte Falle: Der zu erobernde Kunde wird reichlich bedacht, der daneben stehende Stammkunde allenfalls mit einem Päckchen Taschentücher "abgespeist". Doch Vorsicht! Eine "sichere Bank" sind selbst Stammkunden schon längst nicht mehr!

Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2018; 43(20):4-4