Zwischen Onlinehandel und Verkehrschaos

Auslaufmodell Einzelhandel?


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Der Gang durch unsere Innenstädte und selbst durch die bunten Einkaufstempel in oder vor den Toren der Städte erinnert an das Gebiss alternder Gesellschaften: Zunehmend lückenhaft. Leerstände häufen sich. Ähnlich wie beim biologischen Vorbild bleiben im Falle mangelnder Finanzmittel die Lücken bestehen. Wohlhabendere Gemeinden nehmen teils viel Geld in die Hand, um neue Konzepte einer "lebenswerten Innenstadt" zu erschaffen.

Dem klassischen Einzelhandel fallen dabei oft neue Rollen zu, eine Branchenrotation ist gerne die Folge. Center-Manager kaschieren mit immer mehr Dienstleistungs- und Erlebnisflächen, dass es zunehmend schwer fällt, solche Shopping-Malls noch auf klassische Weise zu füllen, insbesondere mit kleineren, interessanten Läden abseits einer öden Textilkettenlandschaft. Dabei befinden wir uns zurzeit noch in einer traumhaft günstigen Situation: Die Arbeitslosigkeit ist niedrig, die Kaufkraft vergleichsweise hoch, ebenso wie die Konsumneigung. Angst vor wirtschaftlichen Problemen, der Spielverderber schlechthin für den Einzelhandel, ist noch kein großes Thema. Aber der Wind scheint sich zu drehen. Wie sieht die Landschaft erst einmal aus, wenn wieder die dicken Minuszeichen dominieren? Für die Apotheken definieren sich in der Folge die Rollen der Frequenzbringer neu. Die viele Jahre gehypten Center-Apotheken müssen aufpassen, aber auch solche in überteuerten Lauf- und Innenstadtlagen.

Wie erklären sich diese Probleme? Die eine Ursache, gerne angeführt wird ja der Onlinehandel, gibt es nicht. Ohne Frage schöpfen Amazon und Co. viel Rahm ab, begrenzen insbesondere die Zuwächse oder beschleunigen Niedergänge. Doch es kommen weitere Ursachen hinzu. Ziemlich weit oben steht die Verkehrs- und Umwelthysterie. Ohne sichtbares rationales Gesamtkonzept wird in Verkehrsströme teils dramatisch eingegriffen. Mikrogramm-Werte in der Luft entscheiden über Millionenumsätze. Parkplätze verschwinden oder werden prohibitiv teuer. Jeder einzelne innerstädtische Parkplatz repräsentiert jedoch im Schnitt einen hoch sechsstelligen Jahres-Einzelhandelsumsatz. Verschwinden die Parkplätze, kommt stattdessen der Paketbote nach Hause.

Der demografische Wandel ist ein weiteres Megathema, und zwar auf beiden Seiten der Alterspyramide. Bei den Jüngeren haben der Konsum und das klassische Shopping einen anderen Stellenwert bekommen (wie übrigens auch das Auto). Bei den Älteren stehen eine eingeschränkte Mobilität (der Kreis zur Verkehrspolitik schließt sich an dieser Stelle) sowie das Sicherheitsempfinden an oberer Stelle. Letzteres hat in den letzten Jahren bekanntlich gelitten. Der demografische Wandel holt zudem die familiengeführten Einzelhandelsgeschäfte ein: Es herrscht Nachwuchsmangel, sowohl an Zahl als auch an Interesse, das Geschäft der Eltern zu übernehmen. Die neuzeitliche Pest in Gestalt überbordender Bürokratie und Regulierungswut trifft nicht nur die Apotheken.

Reden wir Klartext: Ein Reiz am Beruf des selbstständigen Kaufmanns waren diverse Freiheiten und Entfaltungsmöglichkeiten. Gefangen im Steuer- und Abgabendschungel, geplagt von Vorschriftenwahn, Datenschutz, Arbeitsrecht und manchem mehr, bleibt davon nicht mehr viel. Wenn jede Freiheit wegreguliert und hinter jeder Kassendifferenz oder fehlenden Schachtel bereits Betrug in großem Stil vermutet wird, schmälert das eben die Attraktivität. So gleiten wir in eine kleinkarierte Verwalter-, Kontroll- und Umverteilungsgesellschaft ab. Da fast jeder in fein gesponnene elektronische Netzwerke eingebunden ist, lässt sich dies immer besser und lückenloser exekutieren. Das gilt übrigens nicht nur für die Ladengeschäfte. Kleine Dienstleister und Handwerksbetriebe tun sich ebenfalls immer schwerer, Nachwuchs zu begeistern. Der tägliche Arbeitsfrust nimmt dafür zu. Wenn dann noch das "Schmerzensgeld" in Form der Gewinne schwindet, ist es bis zum nächsten Leerstand und dem Schild "zu vermieten" nicht mehr weit.

Solange hier auf der politischen Ebene nicht wieder Vernunft, Augenmaß und eine gewisse Toleranz – sprich: eine Leben-und-leben-lassen-Mentalität – einkehren, wird es für den Einzelhandel jenseits der Großkonzerne weiter bergab gehen, womöglich bald beschleunigt.

Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2019; 44(06):19-19