Personalmangel

Fluch und Segen der Arbeitslosigkeit


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Das Klagen über den Fachkräftemangel ist noch allenthalben groß, wenn auch nicht überall gerechtfertigt. Auf dem Papier ist die Arbeitslosigkeit nunmehr fast wie in den Wirtschaftswunderzeiten extrem niedrig. Es gibt eine beachtliche Zahl offener Stellen, und die Zeiten bis zur Wiederbesetzung einer Vakanz erklimmen in vielen Branchen Höchststände. Die Zahl der Erwerbstätigen ist auf Rekordstand. Die Steuer- und Sozialkassen freuen sich über den warmen Geldregen, Umverteilungspolitiker haben Hochkonjunktur.

Betrachtet man die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden, dann verharrten diese über viele Jahre im Wesentlichen auf gleichem Niveau. Erst in den letzten drei, vier Jahren ist ein signifikanter, gleichwohl nur mäßiger Anstieg zu beobachten. Inzwischen haben wir das Niveau von 1991 gerade einmal knapp überschritten. Gleichzeitig leisten wir uns im internationalen Vergleich recht viel Urlaub, Feiertage (in Berlin jetzt noch einen mehr – den Frauentag) sowie eine eher überschaubare tarifliche Wochenarbeitszeit, wobei die einzelnen Branchen hier beträchtlich auseinanderfallen. Die Erwerbstätigenbilanz wird zudem durch immer mehr Teilzeit getrübt. Gemessen am Wehklagen der Arbeitgeber müssten zudem die Löhne noch stärker steigen. Das tun sie aber nicht – die Ursachenlage hierfür ist vielschichtig und lässt sich keineswegs nur auf eine immer höhere Unternehmergier und Gewinnsteigerung zurückführen.

Dennoch bleibt festzuhalten, dass das Arbeitskräfteangebot immer mehr zu Kompromissen zwingt, die man früher nicht eingegangen wäre. Während attraktive, gut situierte Apotheken in den Metropolregionen eine reichere Auswahl haben, nimmt man heute insbesondere in abgelegenen Landstrichen beinahe jeden. Das kann ernste Implikationen haben, gerade in Filialen: Eine schlechte Filialleitung kann einen Betrieb rasch in die Verlustzone wirtschaften, wenn es sich nicht gerade um einen "Goldgruben-Standort" handelt, der aufgrund seiner herausragenden Lage und seines somit hohen "nicht verhinderbaren Umsatzes" selbst mit völliger Talentfreiheit kaum zugrunde gerichtet werden kann. Diese Glücksfälle sind freilich rar.

Als ein Ausweg bieten sich womöglich sogenannte "Schaukelstuhl-Approbationen" an: Ältere, erfahrene Kolleginnen und Kollegen springen nochmal in die Bresche für überschaubares Geld, ohne sich indes zu sehr in das Tagesgeschäft einzumischen. Sie halten sich angenehm zurück, schütteln die Hände guter Kunden und sorgen für gute Stimmung, währenddessen pfiffige Mitarbeiter der "zweiten Reihe" den Laden operativ auf Kurs halten. Aber das sind alles Notbehelfe. Wie schön wäre es doch, wenn man aus einer größeren Bewerberzahl auswählen und ungeeignete Mitarbeiter einfach "dem Markt zur Verfügung" stellen könnte, ohne gleich den Notstand fürchten zu müssen?

Noch kurioser wird die Situation in anderen Branchen, ganz vorne dran bei den Ärzten. Obwohl so viele von ihnen wie noch nie praktizieren, verwaisen Landarztpraxen, die aufgrund niedriger Kosten und hoher Patientenzahlen ein Beinahe-Garantieeinkommen jenseits der 200.000-€-Grenze böten. Wie weit muss eine Gesellschaft wohlstandsverweichlicht und von überbordendem Anspruchsdenken vernebelt sein, dass solche Chancen nicht wahrgenommen werden? Vor zwanzig Jahren hat man noch um jeden frei werdenden "Kassenarztsitz" Schlange gestanden

Ja, manchmal wünscht man sich – nicht ohne Zynismus – eine scharfe, lange Rezession und steigende Arbeitslosigkeit zurück. Krisen erfüllen gern die Funktion einer Katharsis, sodass Vernunft und Augenmaß wieder einziehen. Plötzlich würde die Landarztpraxis wieder attraktiv, und der etwas längere Arbeitsweg zur Apotheke sowie die Übernahme von Notdiensten wären dann wundersamer Weise kein Problem mehr.

Ein Pendel schwingt immer hin und her. Zehn Jahre Wachstum haben das Pendel sehr weit ausschlagen lassen – Zeit für eine Umkehr. Diese wird kommen, so sicher wie das Amen in der Kirche. Dafür sorgt schon der ja oftmals nur künstlich induzierte Fachkräftemangel selbst, nämlich durch den konjunkturschädlichen Verlust der Wettbewerbs- und Funktionsfähigkeit der Betriebe.

Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2019; 44(09):19-19