Von Musterprozessen profitieren

Steuerbescheide offenhalten


Helmut Lehr

Das deutsche Steuerrecht "produziert" eine kaum noch überschaubare Flut an Prozessen und Gerichtsurteilen. Steuerzahler, die persönlich das Risiko einer Klage scheuen, profitieren davon. Entscheidend ist, dass der eigene Steuerbescheid im Fall der Fälle noch geändert werden kann.

Wenn strittige Steuerfragen im Rahmen eines Prozesses beim Bundesfinanzhof oder vor dem Bundesverfassungsgericht geklärt werden, befürchtet die Finanzverwaltung immer eine gewisse Breitenwirkung. Soll heißen: Steuerzahler, die von den Gerichtsverfahren Kenntnis erlangen, könnten sich auch in ihrem Fall auf das Verfahren berufen und mittels Einspruchs gegen den eigenen Steuerbescheid vorgehen. Seitens der Finanzverwaltung ist man deshalb darum bemüht, massenweise Einsprüche oder Änderungsanträge zu einer bestimmten Rechtsfrage zu vermeiden. Zu diesem Zweck werden Steuerbescheide in bestimmten Punkten mit einem (automatisierten) Vorläufigkeitsvermerk versehen.

Das bedeutet: Wird die Sache im "Musterverfahren" später zugunsten des Klägers entschieden, können Steuerbescheide anderer Steuerpflichtiger, die einen wirksamen Vorläufigkeitsvermerk enthalten, auch noch viele Jahre später quasi "von Amts wegen" geändert werden. Eine Verjährung ist zwischenzeitlich nicht zu befürchten.

Hinweis: Das bedeutet aber auch, dass Sie in solchen Fällen ggf. selbst aktiv werden müssen, in denen eine Streitfrage nicht von dem Vorläufigkeitsvermerk der Finanzverwaltung erfasst ist.

Neuer Vorläufigkeitskatalog veröffentlicht

Mit Schreiben vom 10.01.2019 (Aktenzeichen: IV A 3 – S 0338/17/10007) hat das Bundesfinanzministerium seinen Katalog für vorläufige Steuerfestsetzungen wieder einmal aktualisiert. Demnach werden Steuerbescheide künftig nur noch hinsichtlich folgender Streitfragen vorläufig erlassen:

  • Abziehbarkeit der Aufwendungen für eine Berufsausbildung oder ein Studium als Werbungskosten oder Betriebsausgaben,
  • Höhe der kindbezogenen Freibeträge,
  • Abzug einer zumutbaren Belastung bei der Berücksichtigung von Krankheits- und Pflegekosten als außergewöhnliche Belastung.

Auch die Festsetzungen des Solidaritätszuschlags sind weiterhin nur vorläufig.

Hinweis: Der automatisierte Vorläufigkeitsvermerk der Finanzverwaltung führt allerdings nicht dazu, dass Sie die "strittige Steuerzahlung" zunächst vermeiden können. Wenn Sie dies erreichen möchten, müssten Sie einen förmlichen Einspruch einlegen und zusätzlich ausdrücklich die Aussetzung der Vollziehung beantragen. Das kostet Sie aber 6% Zinsen p.a., sofern das Verfahren schlussendlich zu Ihren Ungunsten ausgeht.

Ruhen des Verfahrens beantragen

Wie Sie der obigen Aufzählung entnehmen können, ist der Vorläufigkeitskatalog der Finanzverwaltung im Vergleich zu früheren Jahren nicht mehr allzu umfangreich – er deckt nur noch wenige Sachverhalte ab. Tatsächlich sind sehr viel mehr Verfahren vor den obersten Gerichten anhängig, über die auch an dieser Stelle regelmäßig berichtet wird.

Wenn Sie für sich selbst einen ausreichenden Rechtsschutz sicherstellen wollen, müssen Sie sich laufend informieren und ggf. mit Ihrem Steuerberater Rücksprache halten, ob in Ihrem Fall offene Musterverfahren zu beachten sind. Übrigens: Nach dem Jahresbericht des Bundesfinanzhofs für 2018 werden etwa 46% der Revisionsverfahren zugunsten der Steuerzahler entschieden!

Spätestens wenn Ihnen Ihr Einkommensteuerbescheid vorliegt, sollten Sie innerhalb der Rechtsbehelfsfrist prüfen (lassen), ob Sie sich auf ein passendes höchstrichterliches Verfahren berufen können.

Hinweis: Ist dies der Fall, können Sie Einspruch erheben und auf das Musterverfahren (mit Aktenzeichen) verweisen. Das Finanzamt muss den Einspruch dann bis auf Weiteres ruhen lassen. Kosten für ein eigenes Klageverfahren entstehen dann zunächst nicht. Einige interessante Verfahren sind unten nochmals aufgelistet.

Helmut Lehr, Dipl.-Finanzwirt (FH), Steuerberater, 55437 Appenheim

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2019; 44(09):16-16