Bleibt alles anders?

Warum Rezepte zukünftig nicht mehr vom Arzt unterschrieben sein könnten


Dr. Michael Brysch

Dass der "digitale Epochenwandel", von dem der verstorbene FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher sprach, auch den Gesundheitsmarkt unaufhaltsam einholt, steht außer Frage. Um zukunftsfähig zu bleiben, sollten wir die Augen vor den aktuellen Entwicklungen nicht verschließen.

Wegzurennen vor dem, was sich gerade auf dem Gesundheitsmarkt abzeichne, sei "irgendwie doof", meinte Dr. Markus Müschenich auf dem diesjährigen Wirtschaftsforum des Deutschen Apothekerverbands (DAV) in Berlin: "Dann kommt nämlich Amazon, und die haben weniger Angst."

Droht Alexa mit dem Anwalt?

Müschenich, der Managing Partner beim Think Tank "Flying Health" sowie Vorstand im "Bundesverband Internetmedizin" ist, ermunterte seine Zuhörer deswegen, Gewohntes hinter sich zu lassen und mit kreativen Lösungen neue Wege zu beschreiten. Dafür gilt es natürlich, die aktuellen Entwicklungen zu kennen.

Hier ist Müschenich zufolge nicht nur an innovative Arzneiformen zu denken, wie an Tabletten, die per Funk die Adhärenz verbessern sollen (z.B. Abilify® MyCite), sondern auch an neue Vergütungsmodelle. Bei "Pay for Performance" etwa werde nur dann bezahlt, wenn die Therapie (z.B. mit dem teuren Krebsmedikament Kymriah®) auch wirke. Derartige Modelle hätten auch Folgen für die Apotheken. Denn wenn die Pharmaindustrie nur bei nachgewiesener Wirkung verdiene, werde sie auch von den Apotheken verlangen, sich aktiv in diesen Wirkbeweis einzubringen – etwa indem sie belegen, dass der Patient sein Medikament auch eingenommen habe. Das wiederum werfe einige Fragen nach der Umsetzbarkeit auf. Lediglich zu beraten und zu verkaufen, werde aber wohl kaum noch ausreichen.

Massive Umwälzungen sieht Müschenich gerade auch durch die Big Player. Beispiel Amazon: Der Online-Riese steigt gerade an vielen Stellen ins Gesundheitssystem ein. So habe er u.a. eine gemeinsame Krankenversicherung mit der Investmentgesellschaft Berkshire Hathaway sowie der US-Bank JPMorgan Chase angekündigt und wolle für Prime-Kunden sogar einen eigenen Arztservice aufbauen. Die Versandapotheke PillPack gehöre ihm sowieso schon, und inzwischen verfüge er auch über ein Patent für das Stimmerkennungstool Alexa, das Diagnosen stellen und entsprechende Empfehlungen unterbreiten, ja sogar gleich einen Arztbesuch vereinbaren könne. Müschenich: "Und wenn es heißt: 'Alles voll, geht nicht!' – dann droht Alexa gleich mit dem Anwalt."

Arzt oder Klo?

Dass etwa Google und insbesondere Amazon (u.a. durch den Cloud-Service "Amazon Comprehend Medical") über einen unglaublichen Reichtum an Patientendaten verfügen, steht außer Frage. Solche Daten und die Technologien, mit denen sie gewonnen werden, kratzen aber zukünftig durchaus auch an der Rolle (nicht nur) des Arztes. Denn es gibt einige Bereiche, in denen künstliche Intelligenz (KI) den "humanen" Mediziner ersetzen kann.

Müschenich führte als Beispiel einen Toilettensitz an, mit dem sich etwa der Blutdruck oder auch die Sauerstoffzufuhr des Blutes bestimmen lasse (Conn NJ et al., JMIR Mhealth Uhealth 2019, 7 [1]: e12419). Man müsse also für eine Diagnose nicht mehr ins Krankenhaus oder zum Arzt gehen, es reiche vielmehr aus, sich zu Hause auf die Toilette zu setzen. Müschenich: "Das ist schon eine gewisse narzisstische Kränkung, wenn man bedenkt, was es in der Arztpraxis kostet, das zu bestimmen. Das heißt aber auch, dass Ihre Toilette vor Ihrem Arzt merkt, wenn Sie krank sind. Auch komisch, oder?"

Dann gebe es da noch Anwendungen wie die mittlerweile von Roche gekaufte App MySugr: Mit dem Diabetes-Management-System, das den Patienten gleich auch die Teststreifen nachliefere, lasse sich etwa das Risiko für ein diabetisches Koma prognostizieren. MySugr sei als Medizinprodukt zertifiziert, werde weltweit von mehr als einer Million Menschen genutzt und verfüge über weit mehr als zwei Milliarden Datenpunkte: "Das ist die Erfahrung von 1.000 Diabetologen, die ihr ganzes Leben nichts anderes gemacht haben", so Müschenich. "Da wird man auch nicht sagen können: Das ist schlechte Qualität!"

Der Mediziner verwies weiterhin auf eine immerhin in "Nature" publizierte Studie von Google (Poplin R et al., Nat Biomed Eng 2018, 2 [3]: 158–164): Dem Konzern ist es gelungen, verschiedene Diagnosen wie Bluthochdruck oder Diabetes zu stellen – durch eine Untersuchung des Augenhintergrundes mittels KI. Google sage ganz klar: "We are matching doctors." Das aber bedeute nichts anderes als: "We are matching the budgets! – Wir wollen das Geld!" Und die Folge? Wenn Ärzte beispielsweise für die Untersuchung des Augenhintergrundes 10% mehr verlangen sollten, hätte Bundesgesundheitsminister Spahn (mit dem Müschenich übrigens 2016 das Buch "App vom Arzt" verfasst hat) ganz andere Argumente zur Hand. Dem Mediziner zufolge könnte Spahns Antwort etwa so lauten: "Verstehe ich nicht: Ich wollte Ihnen 50% weniger anbieten, weil Google es noch preiswerter macht! Aber ok, Sie kriegen noch den Zuschlag, weil wir uns schon länger kennen!"

Müschenich erwartet in den nächsten Jahren sogar heftige Zivilprozesse, in denen die Patienten anführen: "Lieber Arzt, Du hast mich behandelt. Das hat aber nicht geklappt. Hast Du eigentlich eine KI befragt? Da gibt es doch KI, die haben so 4.000 Arztjahre einprogrammiert. Hast Du das gemacht, lieber Doktor, und wenn nicht, warum? Denn jetzt hab‘ ich den Salat."

KI≠Empathie?

Gegen den Einsatz von Maschinen anstelle von Menschen werde oft die fehlende Empathie ins Feld geführt. Müschenich hatte indes zwei Argumente, warum Ärzte trotzdem durch KI ersetzt werden könnten – zwar "definitiv nicht zu 100%", wohl aber zu 10% oder 20%. Beide Argumente lassen sich übrigens auch auf Apotheken übertragen:

  • Zum einen könne sich statt des Arztes eine Krankenschwester um die Patienten kümmern: Wenn sie über ein entsprechendes Expertensystem verfüge, wisse sie ähnlich viel wie der Arzt. Empathisch sei sie als Mensch sowieso und dabei wahrscheinlich preiswerter.
  • Zum anderen gebe es mittlerweile Avatare, die nach den Regeln der kognitiven Verhaltenstherapie programmiert seien. Anhand eines Beispiels zeigte Müschenich, dass diese Avatare Mimik, Gestik, Sprachtonalität und auch Inhaltliches verarbeiten und demzufolge (quasi-empathisch) psychotherapeutische Sprechstunden durchführen können – egal wann und egal wo. Nicht zuletzt sei es dem Therapieerfolg durchaus "zuträglich", wenn der Patient über das Aussehen seines KI-Therapeuten frei entscheiden könne.

Könne die Technik so viel, muss man sich laut Müschenich die Frage stellen, ob Medikamente auch zukünftig weiter von Ärzten verschrieben würden. Zwingend notwendig sei das ja nicht mehr – unter Umständen mit Folgen für die Apotheke: "Denn wenn so eine KI von Google ein Rezept ausstellt: Wer weiß, wo die das dann hinschicken? Denn die Maschine muss auch gar nicht in Deutschland sein."

Den Kopf in den Sand stecken?

Was heißt das nun konkret für die Praxis? Zunächst einmal scheint diese Situation für einen einzelnen Apothekenleiter ein Kampf gegen Windmühlen zu sein. Doch wenn sich jeder Gedanken macht und seine Ideen einbringt, besteht durchaus Hoffnung. Dabei dürfen wir uns Müschenich zufolge allerdings nicht damit "zufrieden geben, dass wir den Gesundheitsminister davon überzeugt haben, keine Rabatte für Rx ins Gesetz zu schreiben." Das gebe lediglich "eine Millisekunde Zeit (…), um Strategien zu entwickeln." Müschenich selbst konnte zwar auch keine Antwort auf die Frage geben, wie es konkret weitergehen soll. Aber der "Wettkampf" gegen die geschilderten Entwicklungen werde nicht durch Blockade gewonnen, sondern nur, indem man aktiv vorangehe.

Als Heilberufler sollten wir dabei schließlich unsere ethische Verpflichtung nicht vergessen. Laut Müschenich ist es an uns, mit unserem Wertegerüst Gesundheit zu gestalten – unter der Maxime: "Wir machen das Beste daraus: Und das Beste ist nicht für uns das Beste, sondern für die Patienten das Beste (...). Wenn wir es schaffen, die Vertrauensmarke zu sein, Healthcare Made in Germany oder Made in Europe im Idealfall: Ich glaube, dann können wir es tatsächlich schaffen." (bry)

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2019; 44(11):7-7