Kybernetische Systeme

Die Sache mit den "Kipp-Punkten"


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Sogenannte "Tipping points" oder Kipp-Punkte haben es jüngst im Zusammenhang mit der Klimawandel-Diskussion zahlreich in die Medien geschafft. Gut ein Dutzend solcher Umschlagspunkte wurden in der Klimaforschung bislang ausgemacht. Bezeichnendes Charakteristikum ist das nicht-lineare Verhalten, das dahinter steht und für kybernetische Systeme typisch ist. Geht es eine lange Zeit noch gut, gerät das System irgendwann, dann aber recht plötzlich, an Grenzen und "kippt" – nicht selten irreversibel. Es erfolgt eine "Sprungantwort". Sie, liebe Leserinnen und Leser, erinnern sich vielleicht an Ihre Studienzeit und die (un-)beliebten Titrationen. Auch da schlug der Indikator von einem Tropfen auf den anderen um, und der Endpunkt war erreicht.

Ähnlich verhalten sich Ökosysteme, vom heimischen Aquarium über den Badesee bis hin zu Weltmeeren oder Regenwäldern. Werden gewisse Systemgrenzen überschritten, ist es vorbei. Aus einem See wird ein stinkendes, mehr oder weniger totes Gewässer – und man mag sich nicht vorstellen, wie ein solches Weltmeer aussähe. Doch das ist noch nicht alles. Jede Änderung, erst recht eine Sprungantwort, ruft weitere Veränderungen hervor, die ihrerseits wiederum Sprungantworten generieren können. Höhere Temperaturen setzen z.B. mehr (Treibhaus-)Gase aus Meeren oder den womöglich erst auftauenden Permafrostböden frei. Infolgedessen wird ein Wachstum von Mikroorganismen (nicht-linear) angestachelt – mit weiterer Verstärkungswirkung. Irgendwann sind alle wichtigen "Hauptsicherungen" aus dem System geflogen, die Pufferkapazitäten erschöpft. Wer über ein mathematisches Faible verfügt, der wird – neben dem allseits bekannten Excel – am kostenfreien Programm Scilab mitsamt dem Modul Xcos seine Freude haben. Damit kann man mathematische Modellierungen aller Art (übrigens auch ökonomische) gestalten.

Es ist leider nicht ganz leicht, die konkret zu erwartenden, künftigen klimatischen Zustände zu beschreiben, und wie das Leben darin aussehen könnte. Gleichwohl wäre es sinnvoll, sich damit intensiv zu beschäftigen – und auch damit, wie die erforderlichen Anpassungsmaßnahmen an diese veränderte Umwelt aussehen müssten. Denn niemand weiß eben, wann was kippt. Die Profis und der informierte Geldadel schaffen sich daher schon längst entsprechende "Exits" in Weltregionen, die mutmaßlich glimpflich davonkommen oder gar zu den Gewinnern gehören werden. Der Begriff "climate change resilience" gehört dann ganz oben in den Werkzeugkasten bei der Suche nach dem "Ausgang".

Solche nicht-linearen Zusammenhänge mit ebenfalls manch sehr überraschenden Sprungantworten begegnen uns aber auch in der Ökonomie und im betrieblichen Alltag. Man denke nur an das eigene Mitarbeiter-Team. Wie schnell, scheinbar aus heiterem Himmel, kippt da die Stimmung! Schlimmstenfalls kommt ein lebhafter, anhaltender "Zickenkrieg" ans Laufen. So etwas kann den ganzen Betrieb sprengen oder aber zumindest erheblich schwächen. Hier bedarf es eines entsprechenden Feingefühls, um die soziografischen Zusammenhänge und "Kipp-Punkte" im Vorhinein zu erkennen und entsprechende Klippen zu umschiffen.

Eine sich selbst verstärkende Dynamik können auch erfolgsentscheidende Standortfaktoren entfalten. Ob Arztpraxen, Frequenzbringer, Verkehrswege – schnell greift eins ins andere, verstärken sich Effekte gegenseitig, und ein Standort verarmt. Erst langsam, dann immer schneller, bis schließlich "die Lichter ausgehen". Auch dies gilt es frühzeitig zu erkennen – mitsamt den relevanten Einflussfaktoren.

Selbst in Wohnblöcken und Stadtteilen sehen wir, analog zu Ökosystemen, solche Entwicklungen, die irgendwann umschlagen. Stück für Stück zieht eine andere Klientel zu, bisherige Bewohner sterben dagegen aus oder ziehen weg. Etliche Jahre später ist das Viertel "gekippt". Umgekehrt funktioniert das irgendwann ebenfalls, das läuft dann unter dem Begriff "Gentrifizierung". Sie sehen: Kybernetische Systeme mit diversen Umschlagspunkten begegnen uns auf Schritt und Tritt. Klassische lineare Hochrechnungen führen hier in die Irre. Man muss tiefer in das System einsteigen und Zusammenhänge ergründen – wie übrigens im eigenen Betrieb auch. Sonst sind nicht zuletzt böse Überraschungen vorgezeichnet.

Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2019; 44(15):19-19