Warum das klassische Ertragswertverfahren Standard bleibt (Teil 3)

Warum sich das modifizierte Verfahren für die Bewertung von Apotheken nicht eignet


Axel Witte

Bislang haben wir die Grundzüge des klassischen Ertragswertverfahrens (EW) und des modifizierten EW (MEW) gegenübergestellt. In diesem letzten Teil unserer Serie setzen wir uns kritisch mit der Frage auseinander, inwieweit sich das MEW für die Bewertung von Apotheken eignet.

Das MEW wurde ehemals für die Bewertung von "nicht-kaufmännischen" Freiberuflerpraxen (insbesondere Arztpraxen) konzipiert [1]. Abgesehen von größeren Einheiten wie z.B. medizinischen Versorgungszentren (MVZ) sind diese Praxen stark inhabergeprägt – mit einem besonderen Vertrauensverhältnis zwischen Inhaber und Patient bzw. Mandant. Ärzte etwa erwirtschaften ihren Umsatz ausschließlich "am Patienten". Der Wert einer Freiberuflerpraxis ermittelt sich daher als Barwert der Nettoüberschüsse für den Zeitraum, den ein Praxiserwerber benötigt hätte, um eine vergleichbare Praxis aufzubauen (Reproduktionszeitraum). Somit ist es sinnvoll, (kleine) Freiberuflerpraxen mittels MEW zu bewerten.

Was unterscheidet Apotheken von Arztpraxen und Co.?

Wie viel Zeit ein Apothekeninhaber im Handverkauf (HV) verbringt, unterscheidet sich je nach Apothekentyp und Mentalität. Allerdings lässt sich der Zeitaufwand "am Kunden" kaum mit dem eines Arztes oder anderen Freiberuflers vergleichen – zumal gerade in Apotheken die Mitarbeiter einen wesentlichen Teil der Tätigkeiten im HV übernehmen. Sie als Inhaber haben in der Regel die klassischen Aufgaben eines Unternehmers, wie z.B. Personalführung, Marketing, Controlling und die strategische Entwicklung. Ihre Management-Qualitäten bestimmen letztlich den Erfolg.

Apotheken hängen somit nicht unmittelbar von der Kunden-Inhaberbeziehung ab und lassen sich auch nicht mit (kleineren) Freiberuflerpraxen vergleichen. Vielmehr sind sie im Kern Handelsunternehmen, wenngleich mit besonderen Produkten und besonderen rechtlichen Auflagen. Deswegen gelten Apotheken auch im Steuerrecht – anders als Freiberuflerpraxen – als Gewerbebetriebe. Und für solche Betriebe nimmt man nach den maßgeblichen Ausführungen des Instituts der Wirtschaftsprüfer (IDW) und z.B. des Verbands für die mittelständische Wirtschaftsprüfung (wp.net) gemäß klassischem EW eine unbegrenzte Lebensdauer an (vgl. AWA 13/2019 sowie [2]). Mit dem MEW lassen sich Apotheken folglich nicht bewerten.

Was sagen die Gerichte?

Die Verfechter des MEW stützen ihre Meinung auch auf Gerichtsentscheidungen (vgl. AWA 3/2019). Darin ging es allerdings nicht um die Bewertung von Apotheken, sondern vielmehr um Freiberuflerpraxen und andere Unternehmen im Rahmen familienrechtlicher Fragestellungen (Zugewinnausgleich). Schauen wir uns die Urteile genauer an:

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat die Bewertung von (kleinen) freiberuflichen Praxen mittels MEW in zwei Urteilen gebilligt [3, 4]. Er hebt insbesondere hervor, was wir anfänglich schon ausgeführt haben, nämlich dass der Praxisinhaber seine Leistung höchstpersönlich erbringt, während er seine "Hilfskräfte" lediglich für untergeordnete, nicht zum eigentlichen Berufsbild gehörende Tätigkeiten einsetzt. Das trifft jedoch nicht auf Apotheken zu. Insoweit ist es unverständlich, warum die Verfechter des MEW diese beiden Urteile als Argumente anführen.

In einem dritten Urteil, das die Verfechter des MEW für ihre Zwecke nutzen wollen, hat der BGH die Bewertung mit ebenjenem Verfahren sogar explizit abgelehnt [5]. Der Tenor der Begründung: Im Gegensatz zu freiberuflichen Praxen hänge die Lebensdauer von mittleren und größeren gewerblichen Unternehmen regelmäßig nicht von der Person des Inhabers ab. Man müsse daher eine unbegrenzte Lebensdauer annehmen und das klassische EW anwenden. Das allerdings, so können wir schlussfolgern, würde für Apotheken als gewerbliche Unternehmen auch gelten.

Darüber hinaus möchten wir noch zwei weitere Urteile betrachten, die die Verfechter des MEW nicht angeführt haben. Die beiden urteilenden Gerichte – der BGH und das Oberlandesgericht (OLG) Köln – sprechen zwar von einem "modifizierten Verfahren" [6, 7]. Jedoch ist das Wort "modifiziert" nicht geschützt und muss jeweils interpretiert werden. In den genannten Urteilen gibt es zwar zwei "Modifikationen" des klassischen EW: Zum einen werden die zukünftigen Erträge aus den durchschnittlichen Vergangenheitsergebnissen hergeleitet. Zum anderen wird der individuelle Unternehmerlohn abgezogen. Damit aber entspricht das, was der BGH und das OLG Köln hier unter dem "modifizierten Verfahren" verstehen, mitnichten dem, was im AWA bislang als MEW – mit seinem verkürzten Reproduktionszeitraum – bezeichnet wurde. Die beiden Gerichte bewerten somit kleine und mittlere Unternehmen (KMU) mit dem leicht abgewandelten, klassischen EW.

Bringt das MEW tatsächlich die genannten Vorteile?

Die Verfechter des MEW haben überdies den Anschein erweckt, dass "ihr" Verfahren Vorteile gegenüber dem klassischen EW hat. Auch hier gilt es, einige Behauptungen zu korrigieren.

Zum Ersten: Der wesentliche Vorteil des MEW gegenüber anderen Verfahren bestünde darin, dass Sie als Inhaber den Wert Ihrer Apotheke über einige Parameter selbst positiv beeinflussen könnten (vgl. AWA 12/2019). Aber selbstverständlich können Sie auch beim klassischen EW positiv auf den Wert Ihrer Apotheke einwirken: Eine gut geführte, ertragsstarke Apotheke ist – unter sonst gleichen Bedingungen – höher zu bewerten als eine schlecht geführte, ertragsschwache. Und somit lässt sich die zitierte "Braut" im klassischen EW über langfristig angelegte Maßnahmen ebenfalls "hübschen".

Zum Zweiten: Im MEW werde eine Apotheke an einem guten und perspektivisch erfolgversprechenden Standort besser bewertet als eine Apotheke an einem eher negativ zu beurteilenden Standort. Im EW hingegen sei das nicht so (vgl. AWA 12/2019). Auch diese Aussage trifft nicht zu. Denn im Rahmen der prospektiven Ergebnisermittlung werden die zukünftigen Standort- und Wettbewerbsbedingungen im klassischen EW selbstverständlich ebenfalls berücksichtigt.

Zum Dritten: Im MEW würden neben den Zinsen und Abschreibungen für das zu übernehmende Anlage- und Vorratsvermögen auch diejenigen für zukünftige Ersatzinvestitionen berücksichtigt (vgl. AWA 12/2019). Doch natürlich gilt das ebenfalls für das klassische EW. Denn nicht zuletzt besichtigt der Gutachter jede Apotheke, bevor er sie bewertet, um ihrem Investitionszustand Rechnung zu tragen.

Zum Vierten: Eine ertragsschwache Apotheke habe im klassischen EW "keinen" oder nur einen geringen Liquidationswert (vgl. AWA 3/2019). Das stimmt ebenfalls nicht. Denn im klassischen EW lässt sich auch bei ertragsschwachen Apotheken der (höhere) Substanzwert – statt des (niedrigeren) Liquidationswerts – ansetzen. Auf einem anderen Blatt steht, ob eine solche Apotheke überhaupt noch empfehlenswert ist.

Fazit

Warum das MEW bei Apotheken angewendet werden sollte, lässt sich weder aus der Literatur noch aus der Rechtsprechung legitimieren. Das MEW bietet für Apotheken keine bewertungsspezifischen Lösungsansätze, die das klassische EW nicht auch liefert. Vielmehr schafft es mit dem aus unserer Sicht nicht objektivierbar zu berechnenden Reproduktionszeitraum ein neues, nicht nachvollziehbares Problem. Insofern bleibt das klassische EW weiterhin Standard für die Apothekenbewertung.

Literatur

[1] Zur Mühlen, D., et al.: Praxisbewertung, Deutscher Ärzteverlag: Köln 2010
[2] Arbeitskreis Unternehmensbewertung von wp.net e.V.: Hinweise für die Bewertung von kleinen und mittleren Unternehmen (Stand: 11/2018), Teilziffer 4.1.3
[3] BGH: Urteil vom 02.02.2011, Aktenzeichen: XII ZR 185/08
[4] BGH: Urteil vom 09.02.2011, Aktenzeichen: XII ZR 40/09
[5] BGH: Urteil vom 06.11.2013, Aktenzeichen: XII ZB 434/12
[6] BGH: Urteil vom 08.11.2017, Aktenzeichen: XII ZR 108/16
[7] OLG Köln: Urteil vom 28.02.2012, Aktenzeichen: 4 UF 186/11

Axel Witte, Dipl.-Kfm., Steuerberater, Geschäftsführender Gesellschafter der RST Steuerberatungsgesellschaft mbH, 45130 Essen, E-Mail: awitte@rst-beratung.de

André Butterweck, Dipl.-Ökon., Dipl.-Arb.-Wiss., Sachverst. für Apo.-Bewertung (öff. bestellt & vereidigt), RST Steuerberatungsgesellschaft mbH, 45130 Essen, E-Mail: abutterweck@rst-beratung.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2019; 44(16):8-8