Warum klemmt es überall?

Viele Probleme sind systemimmanent


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Wohin man hört im Gesundheitswesen – es klemmt überall. Die Antworten gleichen sich: Zu wenig Geld, Personalmangel, Überbürokratisierung, schwindende Arbeitsfreude. Nüchtern betrachtet wachsen die Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben jedoch Jahr für Jahr deutlich oberhalb der Inflationsrate. Immerhin haben sie sich in den letzten Jahren nicht vom Wachstum der Wirtschaftsleistung entkoppelt. Insoweit konnten wir uns das locker leisten. Künftig könnte es jedoch schwieriger werden. Rund 400 Mrd. € lässt sich Deutschland seine Gesundheit übrigens jährlich kosten, das GKV-Budget durchstößt demnächst die 250 Mrd.-€-Marke. Mangel sieht anders aus.

Interessanterweise finden sich ähnliche Klagen in allen Sozialbereichen (Bildung, Pflege etc.), und unsere Bundeswehr ist ja ebenfalls vermeintlich chronisch unterfinanziert. Je mehr der Staat zudem seine Finger in den stellenweise heiß gelaufenen Immobilienmarkt hineinsteckt, umso größer werden auch dort die Probleme. Damit sehen wir einen altbekannten Grund: Der Staat ist oft nicht die Lösung, sondern die Ursache zahlreicher Schwierigkeiten. Wo er sich an der Problemlösung versucht, wird diese langwierig, bürokratisch und am Ende sehr teuer – bei suboptimalen Ergebnissen. Aber es ist etwas getan worden, und etliche Bereiche der Daseinsvorsorge regelt man tatsächlich lieber suboptimal als gar nicht.

Woran liegt es nun, dass immer mehr Geld in unser Gesundheitswesen fließt, trotzdem aber nicht "unten" anzukommen scheint? Bei einer näheren Analyse finden wir zwei zentrale Ursachenkomplexe.

Schauen wir die Ausgabenstruktur an, sehen wir seit Jahren eine immer weitere Zuspitzung der Kostenpyramide in Richtung der Hochkostenmedizin: 1% der Patienten benötigen rund 40% der Arzneimittelausgaben, und auch in anderen Leistungsbereichen finden wir solche Zuspitzungen. Diese wenigen Patienten werden im Zuge stets aufwendigerer Therapien immer teurer. Inzwischen werden Gentherapien mit Kosten im deutlich sechs- oder gar siebenstelligen Bereich salonfähig. Dagegen herrscht in der Breite eher Kostenstagnation. Das erklärt, warum die Masse der Patienten tatsächlich den Mangel sowie die Sparpolitik am eigenen Leibe spürt – und mit ihr die Leistungserbringer, die sich immer groteskeren Spar- und Bürokratieauflagen beugen müssen. Provokativ könnte man sagen: Die Masse muss zunehmend bluten, um die High-Tech-Medizin einiger weniger noch stemmen zu können. Parallelen zu anderen sich verschärfenden Verteilungskonflikten (Vermögen, natürliche Ressourcen etc.) sind rein zufällig …

Der zweite Ursachenkomplex datiert schon länger zurück: Es ist das grundsätzliche Dilemma im Gesundheits-, aber auch z.B. im Bildungswesen, dass der Leistungsempfänger nicht der direkte Zahler ist. Der weit überwiegende Geldstrom (von eher lächerlichen Eigenbeteiligungen im Hinblick auf die bewegten Gesamtsummen abgesehen) wird über eine dritte Partei, bei uns die Krankenkassen, abgewickelt.

Damit bleiben elementare Steuerungsmechanismen, welche ansonsten funktionierende Märkte auszeichnen, auf der Strecke. Ganz oben steht die schwindende Eigenverantwortung der Leistungsempfänger in einem Zwangsbeitragssystem. Auch die Leistungsanbieter nehmen es im Rahmen der Systemgrenzen nicht so genau. Man bringt ziemlich kritiklos das unter die Leute, was von den Kassen bezahlt wird. Der Moral Hazard wirkt sektorenübergreifend. Somit bleibt eine ganz zentrale Eigenschaft funktionierender Selbstregulation auf der Strecke, nämlich ebendiese Eigenverantwortung.

Angesichts der völlig aus dem Ruder gelaufenen Preise für die Hochleistungsmedizin wird es damit allerdings auch schwierig. Wer könnte solche Preise noch für sich kalkulieren? Die für das Funktionieren des Systems so entscheidende Eigenverantwortung wird eher noch stärker ersetzt durch immer mehr (Fehl-)Steuerungsinstrumente, die sich zu einem wahren Komplexitätswahn steigern. Es liegt auf der Hand, dass da allerorten die Arbeitsfreude auf der Strecke bleibt und jeder überfordert scheint. Doch wirklich durchgreifende Lösungen gibt es im Rahmen dieses Systems absehbar nicht. Denn solche Lösungen dürften allzu tiefe Einschnitte zulasten sehr mächtiger Milliarden-Imperien erfordern!

Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2019; 44(17):19-19