Zukunft der Apotheke

Jenseits von Versand und Automatisierung


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Zukunftsangst hat große Teile der Apothekenbranche erfasst. Zwar kann sich das stärkste Viertel oder Drittel der Apotheken entspannt zurücklehnen, profitiert es doch noch lange vom Niedergang der schwächeren Konkurrenz. Ungefährdet sind selbst diese Betriebe nicht.

Versuchen wir zuerst, anhand von Mittelfrist-Szenarien die nächsten Jahre im Hinblick darauf zu umreißen, was auf die Apotheken zukommen könnte.

Idealszenario ab 2020

Das Einlösen des im Laufe des Jahres 2020 eingeführten E-Rezeptes beschränkt sich auf das simple Abscannen eines Codes ohne langwierige Authentifizierungsverfahren. Die "Papierliebhaber" erhalten weiterhin einen Ausdruck mit zusätzlichem 2D-Code, in dem alle relevanten Verordnungsdaten abgebildet sind und der sich ebenfalls leicht abscannen lässt. So ein papiernes "Mischwesen" aus digitaler und analoger Welt könnte für eine Übergangszeit sogar die vorherrschende Lösung sein. Ein Problem: Viele der heute noch in den Arztpraxen verwendeten Rezeptdrucker dürften keinen tauglichen, entsprechend kontrastreichen QR-Code aufs Papier bekommen. Es gelingt jedoch, den Versandhandel juristisch auf Distanz zu halten.

Bei praktikabler Ausgestaltung der E-Rezepte sollte die Bearbeitungsdauer spürbar sinken, da Scan- und Tipp-Vorgänge entfallen. Bei durchschnittlich fast 30.000 Rezepten je Apotheke bedeutet nur eine halbe Minute je Vorgang immerhin rund 250 Stunden Entlastung an den Verkaufstischen. Heutige Fehlerquellen entfallen. Andererseits könnten langatmige Authentifizierungsverfahren sowie technische Unzulänglichkeiten wieder für ein deutliches Zeitplus an den HV-Tischen sorgen. Die Abrechnung eines solchen E-Rezeptes sollte schneller und günstiger vonstattengehen, wobei die heutigen, vermeintlich in der Existenz bedrohten Rezeptabrechnungsstellen zu digitalen Clearingstellen werden. Schließlich wird kaum eine Apotheke mit den einzelnen Krankenkassen elektronisch abrechnen – zumal das auch gar nicht im Sinne der Kassen sein dürfte.

Die Horrorvorstellung

Wir sehen uns ab 2020 einem Wildwuchs diverser Apps gegenüber. Das Rezept mit 2D-Code gibt es nicht, stattdessen werden die heutigen Papierrezepte noch Jahre ausgegeben. Damit muss eine teure Parallelstruktur aufrechterhalten werden. Gleichzeitig ist das Geschäftsgebaren der einzelnen App-Anbieter intransparent, der 40-Mrd.-€-Rezeptmarkt wird zu einem Tummelplatz diverser Geschäftsmodelle und Profiteure, denen die Apotheken hilflos ausgeliefert sind: "Take it or leave it!" Mit wenigen "Wischbewegungen" seitens der Kunden auf dem Touchscreen landet das Rezept irgendwo, sei es im gefürchteten Versandhandel oder noch häufiger womöglich beim Konkurrenten um die Ecke, der eben mehr in seine digitale Sichtbarkeit, sämtliche Apps auf dem Markt, einen flinken Lieferdienst und vielleicht gar einen eigenen Versand investiert hat. Das E-Rezept wäre dann die ultimative Vertiefung heutiger Gräben – mit vielen Verlierern und einigen großen Gewinnern.

Einige Jahre später …

Über das E-Rezept redet niemand mehr. Die Marktanteilsgewinne des Versandhandels wurden von den verstärkt geschlossenen Apotheken sowie aus dem allgemeinen Marktwachstum heraus "bezahlt". Die verbliebenen Betriebe vor Ort sind so stärker geworden. Und trotzdem liegt auch über ihnen ein zunehmend dunkler Schatten.

Es wird immer offenkundiger, dass das klassische Belieferungsgeschäft und nicht allzu komplizierte Formen der Arzneimittelberatung und des Arzneimittel-Risikomanagements von technischen Systemen übernommen werden können. Musste früher viel Zeit aufgewandt werden, um allein ein erstattungsfähiges Präparat im Dschungel der Lieferverträge herauszusuchen, basiert dies nunmehr komplett auf automatisierten Computeralgorithmen. "Robo-Apotheken" und "Robo-Pharmacists" werden salonfähig. Die Arztpraxen verfügen über weitaus leistungsfähigere Programme, die nicht nur ihre ureigensten Tätigkeiten unterstützen (insbesondere die Diagnosefindung und die Therapieoptimierung), sondern weit in die Medikation hineinreichen. Telemedizinische und -pharmazeutische Konsultationen sind alltäglich geworden. Spezialisierte Dienstleister haben diesen Markt indes ebenfalls für sich entdeckt. Somit müssen Logistik und Beratung örtlich wie organisatorisch nicht mehr in einer Hand liegen. Die Konzentration auf immer weniger "Schwerpunkt-Apotheken" schreitet voran. Die Wertschöpfung hat sich längst in den High-Tech-Bereich verlagert.

Entscheidungsweg des Kunden

Um als klassische Vor-Ort-Apotheke nicht abgehängt zu werden, ist es unverzichtbar, den künftigen Weg des Kunden in der Welt des E-Rezeptes zu verstehen. Dabei werden seine Entscheidungskriterien abhängig sein von der konkreten Ausgestaltung des E-Rezeptes sowie von dessen digitalem Handling – und davon, wie lange die Papieralternative noch bestehen wird.

Kunden treffen stets Abwägungsentscheidungen zwischen ihrem Aufwand (Weg, Zeit, Kosten) und dem erwarteten Nutzen (materiell und immateriell bzw. emotional). Das E-Rezept ist geeignet, die Schwelle zur "Untreue" zu senken, wenn sich damit Wege und Zeit sparen lassen. Vielleicht werden einige Kunden ja sogar froh sein, sich keinem "Pharma-Striptease" mit viel Fragerei in der Apotheke stellen zu müssen, wenn das Rezept eben auch mit wenigen Wischbewegungen in der logistischen Anonymität verschwinden kann. Andererseits ist die persönliche Beratung das Pfund der Vor-Ort-Apotheke schlechthin – Sie erkennen hier die offenkundige Gratwanderung!

Die Entscheidung, eine Apotheke weiter persönlich zu besuchen, hängt aber auch von so profanen Dingen wie Nähe zu den Praxen und Frequenzbringern, Parkmöglichkeiten und guter Zugänglichkeit ab. Diese Kriterien werden mit dem E-Rezept nochmals relevanter.

Versuchen Sie also, sich in die Haut Ihrer Kunden zu versetzen, wenn diese künftig einen elektronisch portablen "Wertscheck" in der Hand haben – und ihn quasi in Sekundenschnelle überall hin übermitteln können. Der Unterschied zum heutigen Rezept-Handling ist enorm: Während die Verordnungen derzeit noch zur Versandapotheke geschickt werden müssen (was trotz der Boni nur Wenige tun), entfällt dieser Aufwand zukünftig. Auch müssen die Kunden heute – je nach Gegebenheiten vor Ort – eventuell noch weitere Wege zu einer anderen Apotheke in Kauf nehmen, wenn Sie nicht zu Ihnen wollen. Die digitalen Wege indes werden weitaus "kürzer" sein!

Auswege und Lösungsansätze

Die Digitalisierung, insbesondere das Thema E-Rezept, ist Chefsache von allerhöchster Priorität! Die skizzierten Entwicklungen sind wahrscheinlich, kommen aber nicht über Nacht. Sie haben also noch Zeit zum Handeln:

  • Arbeiten Sie verstärkt an der eigenen Attraktivität und an Ihrem atmosphärischen "Wohlfühl-Profil"! Der Kunde sollte künftig eine noch größere Motivation haben, Ihre Apotheke zu besuchen. Hiermit sind keinesfalls nur materielle Anreize gemeint. Persönliche Sprechstunden, das Hervorheben der pharmazeutisch-handwerklichen Tätigkeiten (individuelle Anfertigungen, Zusammenstellung ganzer "Problemlösungs-Pakete" statt einzelner Fertigpackungen etc.), eine ausgeprägte Serviceorientierung sowie das Thema Schnelligkeit zählen hierzu.
  • Denken Sie über eigene "Einschreibemodelle" nach (z. B. als Bestandteil einer "Premium-Kundenkarte"), gegebenenfalls in Verbindung mit dem Medikationsplan und ergänzend zu Ihren bisherigen Kundenbindungsmodellen.
  • Ebnen Sie dem Kunden alle elektronischen Wege! Der Ausbau der digitalen Sichtbarkeit ist dabei vorrangig, selbst wenn Sie sich über manches vermeintliches "Abzocker-Modell" (durchaus zu Recht) ärgern mögen. Etliches davon wird sich aber nicht durchsetzen – Sie wissen eben zurzeit nur noch nicht, was! Das kann dann schlicht wieder gekündigt werden.
  • Betrachten Sie Ihre heutigen Standortwertigkeiten neu durch die "Convenience-Brille" der Kunden: Warum sollen diese noch die Mühe des persönlichen Besuchs auf sich nehmen? Wie hoch ist der Aufwand dafür – auch im Konkurrenzumfeld? Welche Alternativen haben Ihre Kunden künftig in der digitalen Welt?

Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2019; 44(18):4-4