Technisierung und Digitalisierung

Der größte Raubzug – und Fortschritt ins Nichts


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Werfen wir zuerst einen kritischen Blick auf die Unternehmenswerte: Allein Microsoft und Google (Alphabet) sind momentan 1,8 Bio. € Euro wert – und damit mehr als alle 30 Firmen des deutschen Leitaktienindexes DAX zusammen, die es auf rund 1,3 Bio. € bringen, darunter weltweit führende Auto-, Chemie- und Technologiegrößen. Mit 150 Mrd. € Marktwert ist SAP das mit Abstand wertvollste DAX-Unternehmen – eine global agierende Software-Firma! Ist das ein Sinnbild für den neuen Fortschritt? Oder verbirgt sich dahinter einer der größten Raubzüge der Geschichte, der in einem Atemzug mit der Finanzwelt als "Master of the Universe" (so u.a. der Titel eines Dokumentarfilms zur Bankenkrise) genannt werden muss?

Tatsächlich hat es die IT-Branche mit ihren Steigbügelhaltern in Gestalt der Mikroelektronik- und Chipindustrie geschafft, sich metastasenartig in alle Teile entwickelter Volkswirtschaften einzunisten – ohne Aussicht, sie je wieder vertreiben zu können. Im Gegenteil: Die Digitalisierung ist förmlich zu einer Heilslehre geworden, quasi der Universalschlüssel zur Lösung von Problemen, die gar nicht existieren, ihre Ursache an ganz anderer Stelle haben oder schlicht künstlich kreiert worden sind.

Klassisches Beispiel ist die Autobranche. In den 1980er Jahren waren Autos eigentlich auf dem Höhepunkt angekommen: Zuverlässig, ausreichend leistungsstark, je nach Marke recht sicher – und oft kaum "durstiger" als heute. Stillstand ist jedoch Rückschritt, Wachstum das Gebot. So fand dieses Wachstum nicht nur sprichwörtlich über die Größe statt (u.a. durch die Geburt der Vans und SUVs), sondern auch durch immer mehr Technik (oft nur um der Technik willen) – und eben die Digitalisierung. Hat man Autos früher übersichtlich gebaut und mit robusten Stoßstangen versehen, verkauft man heute teure Einparksysteme. Die Invasion der Fahrassistenten entmündigt den Lenker immer mehr und wird irgendwann im autonomen Fahren gipfeln. Informationsüberladende Bildschirme samt Internet, Social Media und Amazons neugieriger "Alexa" verfolgen einen nun auch auf den Fahrersitz: Features, die bisher kaum ein wirkliches Menschheitsproblem gelöst, dafür aber viele neu geschaffen haben.

Jetzt ist die Energie- und Haustechnik dran: "Smart Home" ist ein Tummelplatz für Komplexitätsliebhaber. Ein einfaches Heizungsventil wird zum W-LAN-basierten High-Tech-Teil, das eine geladene Batterie und ständige Updates der Steuersoftware erfordert. Sie sehen schon: Wo früher einer verdient hat, verdienen heute zehn und morgen zwanzig. Die Wertschöpfungsketten werden immer länger und komplexer. Kaum ein Lebensbereich kann sich dem entziehen. Gleichzeitig werden die Systeme komplexitätsbedingt verwundbarer und fragiler, was infolge der Vernetzung maximale Kreise zieht.

Erstaunlich wenig wird gut durch die Digitalisierung, die nebenbei ein gewaltiger Energiefresser ist. Hochgebildete Menschen stehen rat- und fassungslos vor streikenden IT-Systemen, weil der Mikrochip es will. Oder das Netz. Oder eine insuffiziente Software. Oder regelungswütige Staaten. Was dazu führt, dass sich ein jeder mit immer groteskeren Prozeduren herumschlagen muss. Aktuell hat es die Zahlungstransaktionen getroffen. Da hantiert man wie ein Kleinkind mit TAN-Generatoren vor dem Bildschirm oder schlägt sich mit Authentifizierungsprozeduren herum.

Selbst der heimische Rechner ist heute eine unheimliche, fremdgesteuerte Blackbox, zwangsweise im Update-Wahn am Internet hängend, denn ohne Online-Verbindung läuft fast nichts mehr. Selbstredend wäre ein Großteil des apothekerlichen Bürokratie-Schwachsinns ohne Computer und "Digitalisierung" gar nicht möglich, immer perfidere Kontroll- und Überwachungsprozeduren eingeschlossen. All das treibt uns in die Unmündigkeit, Fremdbestimmung und Abhängigkeit von immer mehr "Partnern". Der Mensch wird seiner Würde beraubt und zum Objekt von Apps und Programmen, die im Grundsatz autoritär funktionieren.

Abseits unzweifelhafter technisch-wissenschaftlicher Errungenschaften erweist sich die Alltags-Digitalisierung allzu oft als Fortschritt ins Nichts und zudem als einer der größten ökonomischen Raubzüge. Liberalen Geistern aus der analogen Zeit drohen harte Zeiten!

Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2019; 44(22):19-19