Coronavirus

Picogramm mit Megawirkung


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Der "schwarze Schwan" misst um die 100 Nanometer, wiegt etwa ein Femtogramm (10–15 Gramm) und schickt sich an, die Welt auf den Kopf zu stellen sowie alle Jahresprognosen ad absurdum zu führen. Wir reden von SARS-CoV-2, so die sperrige Bezeichnung für den landläufig "Coronavirus" genannten Erreger. Ein RNA-Virus mit putzigen Oberflächen-"Spikes", die es in sich haben. Nun gut, man braucht wohl eher tausende Viruspartikel, um mit etlichen Tagen (Wochen?) Verzögerung eine krankmachende Infektion per Tröpfchen- oder auch mal Schmierübertragung in Gang zu setzen. Dies geschieht keineswegs bei jedem. Geschwächte mit Vorerkrankungen sind – nicht sehr überraschend – stärker gefährdet. Ein Picogramm (10–12 Gramm) zwingt so einen 100-Kilogramm-Organismus auf die Matte. "Faszinierend", was sich die Natur alles einfallen lässt. Molekularstatistik und Evolution kennen keine Moral und keine Gefühle.

Immer wieder sticht Südostasien als "Erreger-Brutstätte" hervor. Die Bevölkerungsdichte, viele Mensch-Tier-Kontakte auf offenen Märkten mit mangelnder Hygiene (man denke an die dortigen "Speisekarten") sowie hohe Temperaturen ergeben ein munteres infektiologisches Experimentierlabor. Aber auch der hiesige, antibiotikageschwängerte Massen-Schweinestall birgt manches Überraschungspotenzial – denken wir an bekannte Erreger, die schlicht resistent werden.

Ein Lösungsansatz für diese Infektionsproblematik wäre, Tierkontakte – vornehmlich zu Warmblütern – zu minimieren. Der Fleisch- und Tierhaltewahn in Kombination mit der heutigen Bevölkerungsdichte ist ein Hochrisiko-Unterfangen. Nicht nur aus Klimaschutzerwägungen gilt es, hier anzusetzen. Es gibt attraktive Fleischersatzprodukte. Effiziente Zellkulturtechniken sind eine weitere Alternative – ebenso bekanntermaßen Insekten.

Eine Corona-Infektion äußert sich neben grippeähnlichen Symptomen in Atemnot bis hin zur tödlichen Lungenentzündung – wir zählen hierzulande übrigens ganz normal um die 400.000 Pneumonien jährlich mit etwa 30.000 Toten. Ein Erkrankter steckt vielleicht drei oder noch mehr weitere Personen an, das ist die "Grundvermehrungsrate" (bei Masern sind es deutlich über zehn!). Die Gesamtletalität dürfte sich eher im – vielleicht höheren? – Promille- denn im Prozentbereich bewegen, ist aber größer als bei einer typischen (jedoch eher nicht pandemischen) Influenza. Schwere, hospitalisierte Fälle wiesen zwar bislang Letalitäten von rund 10% auf. Vielfach mildere oder latente Verläufe erscheinen aber gar nicht auf dem Radar. Spannend und noch ungeklärt ist die Frage, welcher Teil der Bevölkerung per se immun ist – oder es wie lange nach einer durchgemachten Infektion sein wird?

Die Krankheit wäre übrigens wohl noch in den 1980er Jahren in den üblichen Krankheitswellen einfach untergegangen und nicht oder erst im Nachhinein als solche erkannt worden. Nun, da wir virologische Routinediagnostiken haben, Sequenzierungen Tagesgeschäft sind und die Medien auf Hochtouren laufen, wird so etwas zur medialen Überlebensfrage der Menschheit. Horrorprognosen malen Millionen Infizierte an die Wand, sollten die Bemühungen um rechtzeitige Diagnose, Eingrenzung und Verzögerung scheitern. Droht dann das virologische Armageddon? Oder werden dann nicht auch 99,x% überleben? Und wird nicht angesichts so vieler milder Verläufe eine breite Immunisierung stattfinden, zudem ein Impfstoff gefunden?

Dieses Virus wird uns zukünftig begleiten, die Gretchenfrage ist, wie schnell und (un-)kontrolliert? Als seinerzeit HIV aufkam, titelten Zeitungen: "Stirbt die Menschheit aus?" Sie tat es nicht. Richten Hysterie und Panik nicht weit mehr Schaden an, wenn in der Folge selbst lebenswichtige Wertschöpfungsketten zusammenbrechen? Schnell nimmt das wahnhaft-destruktive Züge an. Ängste werden uns womöglich stärker zugrunde richten als das Virus selbst.

Tja, da fliegen wir zum Mars, fahren in hochtechnisierten Blechschachteln herum, bauen Supercomputer und fummeln selbst in Ökosystemen herum – aber rotiert der molekularstatistische Zauberstab mal schneller und kommt mit etwas neu designter RNA um die Ecke, macht er gleich alle unsere Überlegenheitsgefühle zunichte. Was für ein Shit aber auch, diese Natur …

Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2020; 45(06):19-19