Potenziert in den Abgrund?

Die Macht der Exponentialfunktion


Prof. Dr. Reinhard Herzog

2,7 Tage! Das ist die Zeit, die es über viele Tage hinweg zur Verdoppelung der Zahl der Corona-Infizierten brauchte: 30% pro Tag! Doch dürfte die täglich gemeldete Zahl den wahren Wert nur zu etwa 10% bis 20% abbilden. Sogar wenn wir dann in Bälde einen Impfstoff auf den Markt brächten: Bis er sich anwenden ließe und die volle Immunität aufgebaut wäre (meist nach rund 14 Tagen), wäre die Republik "durchseucht" – und selbst immunisiert. Aus 100.000 Fällen werden bei obiger Exponentialdynamik in knapp vier Wochen 80 Mio., gebremst durch eine Gegenregulation in Form der sich aufbauenden Immunität als dem dann entscheidenden Limitierungsfaktor. Wenn dieser Artikel erscheint, haben wir die Fallzahl entweder tatsächlich durch unser Verhalten vorläufig eingedämmt – oder sie wird womöglich in den Millionenbereich gewachsen sein.

Das Problem sind die berühmten "Dunkelziffern", nämlich die symptomarm Infizierten, die wohl nie entdeckt werden, sofern man nicht die ganze Bevölkerung testet (was man aus Kapazitätsgründen noch nicht kann). Denn das sind die meisten Fälle, und es ist eines der größten Versäumnisse, keine Querschnittstests zu haben. Das nämlich wäre die Lösung aus dem statistischen Dilemma. Was man unter "die meisten Fälle" zu verstehen hat, ist aktuell die spannendste Frage. Sind es 80%, wie angenommen, oder über 90%? Ein entscheidender Unterschied! Mit einer so hohen Dunkelziffer korrigieren sich nämlich die Sterblichkeits- und Komplikationsraten stark nach unten. Der Grund: Die Infektionen sind viel weiter fortgeschritten, und damit erfolgt die Immunisierung weit schneller, als man offiziell auf dem Radar hat. Der so gefürchtete Ansturm auf die Krankenhäuser könnte dann immer noch stark, aber nicht mehr apokalyptisch sein. Und es sieht tatsächlich danach aus. Ohne Zweifel wird diese Krise viele Opfer fordern und ist alles andere als harmlos. Aber unter dem Strich könnten sich die Horrorszenarien ganz anders darstellen.

Wir könnten so den prominent-glücklichen Fall eines primären "statistical over-estimating" erleben. Das würde zu unseren ängstlichen Gesellschaften passen, die sich im Gefolge des Wohlstands in Wechselwirkung mit diversen neuen Bedrohungen in der ganzen Welt herausgebildet haben. Es kursiert schon der Begriff der "Bio-Diktatur" in Form einer medizinischen Totalüberwachung, zu der eine "Öko-Diktatur" perfekt passen würde. Freiheitsrechte, für die sich unsere Vorväter in Schlachten mit ganz anderen Opferzahlen geopfert haben als heute in schlimmsten Worst-case-Szenarien, stehen selbst hierzulande in Nullkommanichts zur Diskussion. Die Mehrheit der Bevölkerung fordert (ja, die Angst!) gar noch härtere Maßnahmen – allzu oft über das wissenschaftlich gebotene Vernunftmaß der Selbstbeschränkung hinaus. Dies ist einerseits ein interessantes psychologisches Phänomen einer behüteten Kokon-Gesellschaft, die vor ihrer Vertreibung aus dem Paradies steht, andererseits wirft es aber ein dunkles Licht auf unsere gesellschaftliche Zukunft für den Fall, dass es noch ernster kommen sollte.

Rein biologisch betrachtet erweist sich das Coronavirus sogar noch als eher mild – und insoweit als tückisch hinsichtlich seiner schnellen Verbreitung. Wir sollten auch selbstkritisch anerkennen, dass der Mensch die Spezies mit der größten Variationsbreite an Leistungs- und Widerstandsfähigkeit ist – von hoch vital bis hin zum Pflegefall der Maximalstufe. Keine Art konnte sich bislang im evolutionsbiologischen Statistik-Lotto eine solch positive wie negative Vielfalt (oft zusammengepfercht auf engstem Raum) leisten wie der Mensch. Deshalb bräuchten wir eigentlich zwei oder drei Erden für diesen Standard. Das macht uns extrem anfällig, trotz all unserer Technik und Medizin. Manch einer mag dies zwar empört zurückweisen, aber es ist schlichte Biologie. Wir können sogar froh darüber sein, wie gut wir angesichts dieser Tatsachen und unserer vielen Dummheiten (z.B. des Fleisch- und Tierhaltewahns, der uns dieses Virus beschert hat) bislang durchgekommen sind.

Mit dem Coronavirus wischt die Natur kräftig Staub. Doch sie kennt noch drastischere Mittel. Neben nochmals perfideren Keimen dürften kippende Ökosysteme dagegen wie eine Drahtbürste wirken. Die aktuelle Krise kann insoweit ein Weckruf sein. Doch die Gefahr ist groß, dass die Partikularinteressen schnell wieder überhand nehmen – wenn wir nicht bis dahin schon aus Angst vor dem Tod ökonomischen Selbstmord begangen haben.

Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2020; 45(07):19-19