Kontaktsperre

Einzelhandel in der Krise


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Mit jedem Tag der Einschränkungen des öffentlichen Lebens werden die Einschläge spürbarer. Apotheken sind, anders als viele denken, durchaus betroffen – und das nicht nur von sinkenden Passantenfrequenzen. Es gilt, dem Shutdown langsam wirtschaftliche Konturen zu geben.

Werfen wir einmal einen Blick auf unsere deutsche Einzelhandelslandschaft: Nach dem letztverfügbaren Zahlenspiegel des Handelsverbandes Deutschland hatten wir im Jahr 2018 noch gut 330.000 Einzelhandelsunternehmen in 475.000 Ladenlokalen. Für 2019 wurde ein Umsatz von gut 535 Mrd. € netto (ohne Kraftfahrzeuge, Kraftstoffe und Apotheken) prognostiziert, davon knapp 60 Mrd. € im Online-Bereich. Dies sorgt für rund 3,1 Mio. stationär Beschäftigte, in Vollzeitäquivalenten sind das immer noch etwa 2,1 Mio. Je Mitarbeiter wurden im stationären Einzelhandel rund 155.000 € umgesetzt, pro Vollzeitstelle 220.000 € (jeweils netto).

Fast 900.000 Beschäftigte arbeiten in kleineren Einzelhandelsgeschäften mit maximal einer Mio. € Umsatz, die jetzt stark gefährdet sind. Wir haben etwa 480 Einkaufszentren, mehrheitlich mit Apotheken, die nunmehr – je nach Branchenmix – teils existenzielle Probleme bekommen, zumal Center durch die Strukturverschiebungen der letzten Jahre sowieso auch vor der Krise schon ihre beste Zeit hinter sich hatten und sich Leerstände häuften.

Das Hotel- und Gaststättengewerbe steht für gut 90 Mrd. € Umsatz, die Branchen Freizeit, Unterhaltung und Kultur setzen rund 155 Mrd. € um. Hier herrscht weitgehender "Kahlschlag". Man kann leicht überschlagen, was bei Pro-Kopf-Umsätzen im Bereich von 150.000 € pro Jahr in diesen ganzen Branchen an Arbeitsplätzen zur Disposition stehen. Das geht rasch in die Millionen. Rein umsatzmäßig profitieren zwar im Moment die Lebensmittler und Drogeriemärkte (in größeren Centern auch die sonst stiefmütterlichen "Non-Food-Segmente"), beim großen Rest herrscht Totalausfall.

In Tabelle 1 sind die einzelnen Branchen auf orientierende Monatsumsätze zu Kundenpreisen umgerechnet.

Selbst um die Mehrwertsteuer bereinigt, wird schnell klar, was ein Monat, ja schon eine Woche Shutdown bedeuten. Und es gibt schließlich nicht nur Einzelhandel, Gaststätten und Reiseveranstalter in der Republik, auch andere Teile stehen still. Man denke nur an die Wertschöpfungsketten und die indirekte Beschäftigung: Vorlieferanten, Logistik, Dienstleister etc. Im Falle des Einzelhandels reden wir da über eine ähnliche Dimension wie über die der Ladenbeschäftigten selbst.

Was können Sie tun?

Vielleicht mehr als Sie denken! Da die meisten Kontaktpunkte der Menschen geschlossen sind, werden die verbleibenden umso wichtiger. Die Apotheken haben jetzt einen so großen Einfluss auf ihre Kundschaft wie noch nie! Denn was bleibt Ihren Kunden noch, außer dem "Distanzkampf" im Discounter um Klopapier? Insoweit steigt zumindest temporär unsere politische Bedeutung. Überlegen Sie daher, Ihre Kunden mit Vernunft und gebotener Ernsthaftigkeit zu mobilisieren. Das ist ein Baustein, die (über-)restriktiven Maßnahmen aus dem Panikmodus in eine Phase der Vernunft mit Augenmaß zu überführen.

Evidenz für Ladenschließungen?

Aus epidemiologischer Sicht ist kaum nachvollziehbar, warum ein Buchladen, ein Bekleidungs- und Schuhgeschäft oder der kleine Geschenke-, Schreibwaren- und Blumenladen um die Ecke geschlossen sind – und viele davon hierdurch ihrer dauerhaften Existenz beraubt werden.

Der Grund, warum das Ansteckungsrisiko in den meisten Einzelhandelsläden gering bleibt, liegt einfach in der sehr überschaubaren Kundenfrequenz. Haben Sie, zumal in dieser Jahreszeit, schon einmal starkes Gedränge an einer Buchhandels-Ladenkasse erlebt? Oder proppenvolle Bekleidungsläden, in denen Sie keine vernünftige Distanz hätten halten können? Solange man Lebensmittler und Drogeriemärkte offen lässt, solange sollte man das auch mit weitaus weniger frequenzstarken Ladengeschäften tun. Die Kundenfrequenz bezogen auf die Ladenfläche ist der entscheidende Parameter! Zugangsregeln (z.B. "Nicht mehr als x Kunden gleichzeitig!") können viel bewirken, ohne dass die Läden gleich schließen müssen. Als "Apotheker an der Basis" haben Sie jetzt einiges in der Hand – wenn Sie den Verantwortlichen und Meinungsbildnern vor Ort klar machen: Stirbt die Einzelhandelslandschaft, sterben Apotheken mit, und viel Liebgewonnenes mehr!

Praxen fahren herunter

Interessanterweise brechen jetzt teilweise auch die Verschreibungszahlen ein. Der Grund: Etliche Ärzte, vornehmlich Fach- und Spezialärzte, fahren ihre Sprechstunden herunter bzw. verschieben nicht akut nötige Termine und Untersuchungen, um ihre Praxen und ihre Mitarbeiter zu schützen.

Zudem schieben viele Patienten von sich aus Arztbesuche auf, aus (nicht ganz unberechtigter) Angst, sich in der Praxis zu infizieren. Praxisbesuche bergen allerdings immer ein erhöhtes Ansteckungsrisiko, insbesondere in der Grippesaison. Da ist es fast schon eine Petitesse, dass anhängende Gesundheitsberufe wie Physiotherapeuten, Podologen etc. als Frequenzbringer völlig wegfallen, da sie zwangsweise schließen. Es ist also mitnichten nur die wegbrechende Passantenfrequenz, die Apotheken zu schaffen macht.

Was tun? Viele Apotheken haben bereits informelle Kanäle und ein pragmatisches Rezept-Handling mit ihren wichtigen Praxen eingerichtet. Die Krise verlangt nach fairen, kollegialen Lösungen, die das Risiko für alle Beteiligten mindern, gleichzeitig aber die Versorgung der Patienten bestmöglich aufrechterhalten.

Abhängigkeiten eruieren

Der "Corona-Härtetest" hat insoweit eine interessante Nebenfolge, als er Ihnen Ihre Abhängigkeiten von wichtigen Frequenz- und Umsatzbringern vor Augen führt. Dinge, die einst selbstverständlich waren, sind es nun nicht mehr. Schauen Sie deshalb in einer ruhigen Stunde, welchen Einfluss die Passantenfrequenz hat (aktuelle Werte überschlagen und mit früheren Werten vergleichen), welche Schließungen besonders weh tun, welche Kundengruppen jetzt wegbleiben bzw. vielleicht auch neu hinzukommen (warum jeweils?), und welche Rolle welche Ärzte spielen.

Auch das Verhältnis zu den Praxen wird jetzt auf eine Probe gestellt. Mit welchen klappt es gut (und diese sind dann auch für die weitere Zukunft ebenso wichtige wie belastbare Bausteine)? Auf welche kann man sich nicht so verlassen? Schauen Sie zudem auf die lieben Kolleginnen und Kollegen: Wer wahrt die Kollegialität und zieht an einem Strang? Wer schert aus und will auf einem billigen "Panikticket" Boden gutmachen? So etwas merkt man sich – und schließlich sieht man sich gern zweimal im Leben ...

In der Not erkennt man Freundschaften und Treue, aber eben auch flüchtige (Kunden-)Beziehungen, auf die man nicht bauen kann. Insoweit vermittelt Ihnen dieser "Härtetest" ganz neue Einsichten und sicher manche Enttäuschung (das Wort bedeutet positiv gewendet: das Ende der Täuschung!). Das öffnet Ihnen aber auch die Augen, wie Sie sich künftig besser aufstellen, sei es mit neuen Sortimenten, Spezialisierungsrichtungen und Geschäftsbereichen oder auch an einem anderen Standort.

Wenn Sie nach rechts und links in Ihre Umgebung schauen und die Summen sowie Betroffenheiten betrachten, sehen Sie, dass die meisten Apotheken sogar noch eher gut abschneiden. Zudem wird das Thema Gesundheit nach dieser Krise eine andere Wertigkeit bekommen – wenn auch vermutlich unter den Kautelen eines "enger geschnallten Gürtels". Am Ende gehören Sie jedoch nach wie vor zu einer Zukunftsbranche!

Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2020; 45(08):4-4