Europäische Wirkstoff- und Medizinprodukteproduktion

Stimmenfang – oder eine Frage der Vernunft?


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Es ist hierzulande stets das gleiche Spiel: Erst werden mit viel Meinung und Ideologie, dafür aber umso weniger Sachverstand, Strukturen und ganze Industriezweige abgewirtschaftet. Auch vor Corona, was allem die Krone aufsetzt, ereilte dies die Pharma- und Autoindustrie, Teile der Energiebranche und – wenig beachtet – die Medizintechnik durch den regulatorischen Overkill der EU.

Einst waren wir die Apotheke der Welt. Heute jedoch findet sich unter den Generikafirmen kein größeres deutsches Unternehmen mehr. Und die wenigen noch forschenden deutschen Firmen mit globaler Bedeutung steigen etwa ab Platz 15 in die Weltrangliste ein. Eine extreme Regulierungsdichte, ein in seiner Komplexität einmaliges Preis- und Rabattkorsett sowie ein tiefes Unbehagen gegenüber allem, was irgendwie knallen und stinken könnte (vulgo Chemie) oder sich gar an Genomen versucht (Gentechnik), haben in diese Lage geführt.

Dass sich nun sogar die Grünen dafür aussprechen, Wirkstoffproduktionen aus Asien nach Europa und gar nach Deutschland zurückzuholen, mag positiv gewendet am bürgerlichen Sinneswandel liegen. War es nicht der seinerzeitigen hessischen Landespolitik zu verdanken, dass u.a. die gentechnische Insulinproduktion der früheren Firma Hoechst AG im Frankfurter Stammwerk nicht in Gang kam? Über die sonstige bücherfüllende Industrieverhinderungspolitik samt ihrer Ausleger in Form von Bürgerinitiativen aller Art sei an dieser Stelle vornehm geschwiegen.

Abseits dieser Schelte sprechen jedoch ganz praktische Gründe gegen eine baldige, nur politisch motivierte Rückholung der Wirkstoffproduktion. Erwähnt sei, dass es in Europa durchaus noch zahlreiche Halbfertigwaren- und Fertigarzneimittelhersteller gibt, auch in Form diverser Lohnhersteller – und sogar Wirkstoffproduktionen. Sanofi beispielsweise baut letztere sogar gerade aus, ganz ohne Politik.

Es existieren aber Gründe, warum wir weit über tausend Wirkstoffhersteller in der Welt haben, und es gibt gute Argumente, weshalb komplexe Wirkstoffe (oder sehr billige Massenprodukte) nur von wenigen hochspezialisierten Betrieben produziert werden. Das gilt übrigens für viele Produkte quer durch alle Branchen. Man denke nur an hochspezialisierte, rar gesäte Halbleiterfabriken.

Ein Blick auf die heutige Pharma-Synthesechemie zeigt eindrücklich, wie komplex solche Synthesen ablaufen, und das trotz oder gerade wegen des hohen Preisdrucks. Gut 500 generische Wirkstoffe decken über 95% des Bedarfs ab. Viele notieren bei einigen zehn Euro je Kilogramm, niedrigdosierte gern bei einigen hundert Euro, hin und wieder auch vierstellig. Die Wirkstoffkosten stellen regelhaft den größten Einzelposten der Herstellkosten gerade bei Billiggenerika dar. Um rationell produzieren zu können, bedarf es entsprechend hochspezialisierter Anlagen. Zudem reden wir über Wirkstoff-Weltmärkte, an denen unser Anteil beständig sinkt; selbst die USA mit ihren gut 4% der Weltbevölkerung spielen bei generischen Wirkstoffen nicht mehr die erste Geige, was auch dort für Diskussionen sorgt (daher gab es unlängst den Alarm schlagenden "Drug Shortage Report" der Food & Drug Administration FDA).

Der Plan, Wirkstofffabriken neu anzusiedeln, dürfte vorzugsweise im noch preisgünstigen Osteuropa infrage kommen. Zudem bräuchte es viele unterschiedliche Produktionslinien (siehe oben). Die Gretchenfrage: Gelingt das auf einem global wettbewerbsfähigem Level? Oder sind (Dauer-)Subventionen mit allen Nebenwirkungen nötig? Wer nimmt diese Wirkstoffe dann ab – zu möglicherweise nicht weltmarktfähigen Konditionen? Deutschland ist als Markt viel zu klein, selbst die heutige EU mit noch 6% der Erdbevölkerung rangiert zunehmend unter "ferner liefen". Vergessen wir nicht den Zeitbedarf für den Aufbau. Kurz- und mittelfristig ändert sich an den Engpässen also nichts.

Eine Wirkstofffabrik braucht zudem, das wird gerne vergessen, viele oftmals "hässlich" herzustellende Vorprodukte. Und die kommen wieder – ja, genau – gerne aus Asien! Damit werden nur die Abhängigkeiten getauscht. Es bleibt die Erkenntnis: Aussteigen geht schnell. In ganze Wertschöpfungsketten wieder neu einzusteigen, fällt dagegen verdammt schwer. Auch wenn sachlich viel dafür spricht.

Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2020; 45(08):19-19