Testen bis zum Abwinken

Alle Macht der (Test-)Diagnostik


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Da sage noch mal jemand, Krisen böten nicht enorme Chancen und Wachstumspotenziale! Eine Branche am Konjunkturhimmel ist jene der Diagnostika – samt allem, was sich in den Wertschöpfungsketten wiederfindet. Die Corona-Pandemie hat diverse Tests, ganze Testgerätebatterien oder Laborverfahren zu einem höchst gefragten und teils extrem knappen Gut werden lassen. Hinter solchen Tests stehen Spezialreagenzien, Laborausrüstungen, Verbrauchsmaterialien sowie weitere Technik, z.B. zur Detektion und Auswertung, aber auch diverse Apps.

Es verwundert daher nicht, dass Unternehmen wie z.B. Roche (mit der global führenden Diagnostika-Sparte), Thermo Fisher, Sigma-Aldrich (vor nicht allzu langer Zeit vom deutschen Pharmariesen Merck übernommen), der hierzulande ansässige Pharma- und Laborzulieferer Sartorius und viele weitere, auch kleinere Firmen stark profitieren. Aktienanleger seien an dieser Stelle entsprechend sensibilisiert. Erfreulich ist, dass Europa und insbesondere Deutschland im internationalen Rennen bei Diagnostika und Medizinprodukten recht gut dastehen. Eine neue Klippe mit Absturzgefahr für innovative Anbieter, nämlich das Inkrafttreten der novellierten EU-Medizinprodukterichtlinie mit ihren zahllosen Fallstricken, ist jedoch wegen der Coronakrise nur um ein Jahr verschoben worden. Es bestehen also ganz gute Aussichten, auch diesen zukunftsträchtigen Bereich noch erfolgreich kaputt zu regulieren.

Jeder Kundige weiß allerdings: "What you test is what you get" und "Wer misst, misst Mist". Je mehr getestet wird, desto mehr erscheint "auf dem Schirm". Doch obwohl Tests und Messungen mehr oder weniger fehlerbehaftet sind, liefern sich Politiker einen Überbietungswettbewerb – wer testet mehr? So wird gefordert, alle Bewohner und Beschäftigten von Altenheimen sowie auch große Firmenbelegschaften immer wieder neu auf Corona zu testen. Aber mit welcher Erfolgsaussicht – und zu welchen Kosten?

Gerade (Massen-)Tests sind rasch zielführend, wenn unveränderliche Merkmale geprüft werden, wie z.B. eine genetische Disposition. Schwieriger bis prädiktiv unverwertbar wird es, wenn hochdynamische Geschehen mittels punktueller Tests abgebildet werden sollen. Hier schlägt die Stunde der kontinuierlichen Überwachung. Zu leisten wäre diese perspektivisch u.a. mittels spezieller Implantate, aus denen die relevanten Parameter laufend ausgelesen werden könnten. Davon sind wir insbesondere durch unsere mentale Einstellung noch meilenweit entfernt, und zudem gibt es auch manch technische Hürde zu überwinden. Andererseits werden wir durch immer mehr Überwachungstechnik und Apps im Alltag zunehmend auf solche Ansätze vorbereitet.

Einstweilen kündigt sich eine Materialschlacht an. So haben wir gut 800.000 Pflegeheim-Bewohner und fast drei Millionen ambulant Pflegebedürftige als Kern der Risikogruppen. Zuerst wäre über Antikörper zu prüfen, ob diese Menschen bereits eine Infektion durchgemacht haben. Der Anteil der positiv Getesteten dürfte hierzulande aber gering sein. Eine dann weiterhin erforderliche engmaschige (z.B. wöchentliche) Testung auf Akut-Infektionen liefe auf über 15 Millionen Tests hinaus – monatlich! Bislang wird ein solcher Akut-Test in der GKV noch mit 59 € vergütet, privat mit gut dem Doppelten. Darüber hinaus müssten die Kontaktpersonen engmaschig getestet werden, das sind (ohne besuchende Angehörige!) zusätzlich mehr als eine Million Menschen. Ähnliche Rechnungen kann man für Firmen aufmachen, wodurch das Ganze nochmal in andere Dimensionen wachsen würde. Man erkennt schnell, dass das kaum zu leisten ist – und dass Kompromisse gefunden werden müssen.

Zudem wird der Erkenntnisgewinn gern überschätzt – es sei denn, man würde die Testintervalle mit groteskem Aufwand bis hin zu einem quasi-kontinuierlichen Monitoring verkleinern. Abgesehen von diagnostischen Fehlern (Spezifität und Sensitivität der Tests) müssen wir wegen der Verbreitungscharakteristik von SARS-CoV-2 (viele symptomarme Verläufe, Dauer der Infektiosität, "diagnostische Lücken" etc.) immer mit Überraschungen rechnen. Am informativsten wäre ein echtes "Online-Tracking" am Ort des Geschehens, nämlich im Körper selbst. Das illustriert, in welche Richtung die Entwicklung wohl gehen wird – und dass die Diagnostik ein riesiger Wachstumsmarkt ist.

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2020; 45(12):19-19