„Tele“ auf dem Vormarsch

Die Macht der Kameraaugen


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Vor mittlerweile rund 90 Jahren lernten die Bilder wie von Zauberhand auch aus der Ferne das Laufen, es war die Geburtsstunde von „Television“, vulgo Fernsehen. 20 Jahre später drehte George Orwell in seinem Roman „1984“ die Blickrichtung der Kameras einfach um – nunmehr lieferten die Bürger das Unterhaltungsprogramm für einen auch deshalb allmächtigen Überwachungsstaat. 1984 ist lange vorbei. Mittlerweile stecken hochauflösende stecknadelkopfgroße Kameras, umrahmt von leistungsstarken Mini-Mikrofonen mit Mauseohrqualitäten, in fast allen internetfähigen Kommunikationsgeräten. Eine allumfassende Vernetzung komplettiert die heutigen Kameraaugen zu einem perfekten Machtapparat, wie ihn sich selbst Orwell nicht hätte erträumen lassen.

Aktuell hat unsere Apothekenbranche die Übernahme des Telemedizinanbieters TeleClinic durch die schweizerische DocMorris-Muttergesellschaft zur Rose Group AG aufgeschreckt. Die Bedrohung des eigenen Geschäftsmodells durch einen als übermächtig empfundenen, fremdkapitalbefeuerten „Game Changer“ lässt den Blutdruck emporschießen. Stünden die TeleClinic-Augen unter standespolitischer Regie, gäbe es wohl wenig Bedenken.

Die gesellschaftspolitische Reflexion freiheitsbedrohender Themen liegt unserem Berufsstand, der sich gern in selbstgewählten Regularien und Selbstkasteiungen ergeht, jedoch eher nicht. Im Gegenteil: Dem Freiheitsbegriff wird mit erstaunlicher „kognitiver Dissonanz“ begegnet: Schön, solange es um die private Freiheit und Lebensgestaltung geht. Und immer ganz schlecht, wenn die berufliche Freiheit außerhalb fest zementierter Wege betroffen ist.

Insoweit muss man den „Big Playern“ paradoxerweise fast dankbar sein, dass sie sich marktliberal-brutal wie die Haie auf die Fleischbrocken im Meer der Digitalisierung stürzen – zeigen doch gerade sie damit eindrucksvoll auf, was uns allen blühen kann. Denn solche Disruptoren neigen gern zu gefährlicher Rasanz und Übertreibung. Sie öffnen so vielleicht die Augen der Verantwortlichen für Gefahren, die sich sonst vermeintlich kontrolliert in die tägliche Routine eingeschlichen hätten.

Es geht um viel mehr als den Verbleib elektronischer Rezepte. Große Teile der heutigen „Face-to-face“-Kommunikation in Apotheken, Arztpraxen oder bei anderen beratenden Berufen lassen sich per Videokommunikation zielführend erledigen. Per Bild- sowie gar Stimmanalyse lässt sich mehr herauslesen als manch einer glaubt. Die Vernetzung mit Diagnosegeräten wird die nächste Entwicklungsstufe markieren – bis hin zur Abfrage von Implantaten, die physiologische Parameter erfassen. Online können die Informationen dann schnell gebündelt und beliebig verteilt werden. Hier wird es kritisch.

Im Horrorszenario ist das dann ein fachkräftebesetztes, profitorientiertes Callcenter irgendwo auf der Welt. Allerdings kann der Weg zum ansonsten weit entfernten Top-Experten digital kürzer und schneller denn je werden. Tatsache ist: Standardwissen ohne „handwerkliche“ Komponenten und wertvolle Praxiserfahrung erfährt eine digitale Entwertung und Globalisierung. Hochwertige „Handarbeit“, gern intellektuell hinterlegt, wird dagegen im Wert zulegen. Handwerker und Chirurgen können aufatmen, bloße „Kugelschreiber-Praxen“, „08/15-Wissensvermittler“ und Nachplapperer von reinem Lehrbuchwissen müssen fürchten.

Mit der Entwicklung unserer Smartphones zu Universalgeräten sind die Wege vorgezeichnet – auch die mentalen in der Bevölkerung. Das Kameraauge wird längst nicht mehr vorrangig als Gefahr wahrgenommen. Heute nimmt man die Videoüberwachung einfach hin, fordert sie immer öfter sogar aktiv ein. Homeoffice und Online-Konferenzen sind salonfähig geworden. Nachdem die Corona-Pandemie allen Kontroll- und Überwachungs-Apologeten in beispielloser, teils surreal-grotesker Weise in die Hände spielt (und sich dies eher noch verstärken wird), steht den multifunktionalen Kameraaugen kaum mehr etwas im Weg: Sicherheit first, Bedenken second! Wir schützen mit rasant steigendem Aufwand Leben, das wir mit genau diesen Maßnahmen immer weiter entwerten – durch den Verlust der Selbstbestimmung und Freiheit. Zumindest solange diese überhaupt noch als Werte wahrgenommen werden.

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2020; 45(16):19-19