Längere Erkrankung während der Ausbildung

Kindergeldanspruch besteht weiterhin


Helmut Lehr

Für Kinder in der Berufsausbildung haben Sie Anspruch auf Kindergeld. Auch bei einer unfallbedingten schweren Krankheit kann das Kindergeld beansprucht werden. Das voraussichtliche Ende der Erkrankung muss dabei nicht immer absehbar sein.

Ab und zu gelangen Fälle vor die Justiz, an die man zunächst gar nicht richtig glauben möchte. So hatte das Finanzgericht Münster unlängst darüber zu entscheiden, ob die Eltern eines während der Ausbildung schwer verunfallten Kindes auch während der Genesungsphase Anspruch auf Kindergeld haben (vgl. Urteil vom 01.07.2020, Aktenzeichen: 11 K 1832/19). Eigentlich sollte man die Frage spontan mit einem klaren „Ja“ beantworten. Das Finanzamt sah das allerdings anders.

Der 1999 geborene Sohn der Klägerin hatte zum 1. August 2015 eine Ausbildung zum Zweiradmechaniker begonnen, die laut Vertrag am 31. Januar 2019 beendet sein sollte. Allerdings erlitt der junge Mann im September 2018 bei einem Arbeitsunfall ein Schädel-Hirn-Trauma. Nach einem mehrwöchigen Klinikaufenthalt durchlief er einen Rehabilitationsplan, um wieder als Zweiradmechaniker arbeiten zu können.

Obwohl das Ausbildungsverhältnis unstreitig weiter fortbestanden hat, wurden die Kindergeldfestsetzungen von der Familienkasse rückwirkend ab Oktober 2018 aufgehoben.

Begründung: Der Sohn könne aufgrund der Erkrankung in absehbarer Zeit nicht aktiv an der bisherigen Ausbildung teilnehmen. Und die Erkrankung selbst begründe keinen Anspruch auf Kindergeld.

Ende der Erkrankung nicht nachgewiesen

Die Familienkasse verwies vor Gericht auf die aktuelle Verwaltungsanweisung des Bundeszentralamts für Steuern, nach der das voraussichtliche Ende der Erkrankung durch eine ärztliche Bescheinigung nachzuweisen und jeweils nach Ablauf von sechs Monaten zu erneuern ist (vgl. Dienstanweisung zum Kindergeld vom 09.07.2019, Aktenzeichen: St II 2 - S 2280-DA/19/00002).

Das Finanzgericht ließ diesen Einwand nicht gelten und kam zu dem überzeugenden Ergebnis, dass ein krankes, aber weiterhin ausbildungswilliges Kind ebenso berücksichtigt werden müsse wie ein Kind, das sich ernsthaft um einen Ausbildungsplatz bemüht.

Entscheidend war auch, dass im September 2019 eine Arbeitserprobung und im Februar 2020 eine weitere berufsvorbereitende Maßnahme stattgefunden hatten. Außerdem war der Berufsausbildungsvertrag nicht formal beendet worden.

Arbeitsanweisung nicht bindend

Das Finanzgericht hat nochmals betont, dass es (natürlich) nicht an Arbeitsanweisungen der Finanzverwaltung gebunden sei – zumal sich aus dem Gesetz nicht ergebe, dass das voraussichtliche Ende der Erkrankung durch eine ärztliche Bescheinigung nachzuweisen ist. Überdies dürfte dies gerade bei einem Schädel-Hirn-Trauma – wie eben im vorliegenden Fall – gar nicht seriös möglich sein.

Das letzte Wort in dieser Sache ist aber noch nicht gesprochen. Denn die Familienkasse will sich mit dem Urteil nicht zufriedengeben und hat Revision beim Bundesfinanzhof eingelegt (Aktenzeichen: III R 43/20). Bis dieser entschieden hat, müssen Sie mit Gegenwind rechnen, wenn Ihr Kind länger schwer erkrankt ist. Dann sollten Sie zumindest versuchen, vom behandelnden Arzt einen Nachweis über das voraussichtliche Ende der Erkrankung zu erhalten – wie es die Finanzverwaltung ja wünscht.

Hinweis: In wirklich schlimmen Fällen muss gegebenenfalls geprüft werden, ob der Kindergeldanspruch aufgrund einer eingetretenen schweren Behinderung (gesonderter „Begünstigungstatbestand“) besteht.

Helmut Lehr, Dipl.-Finanzwirt (FH), Steuerberater, 55437 Appenheim

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2020; 45(18):18-18