Klima, Umwelt, Nachhaltigkeit

Ohne Maß und ohne Ziel?


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Die Corona-Pandemie ist längst nicht besiegt, da treten nun wieder der Klimaschutz bzw. ganz dramatisch die "Klimarettung" auf den Plan. Was es daran zu "retten" gibt, wird zu erörtern sein. Manche Beobachter jedenfalls sehen die pandemiebedingten Eingriffe des Staates in unsere Grundrechte sogar als soziologisches Großexperiment, um die Belastungs- und Toleranzgrenzen der Bevölkerung für das viel größere Projekt "Klimarettung" auszutesten. Dabei sollten alle Handlungen eines klug agierenden Rechtsstaates sowohl Maß als auch Ziel aufweisen.

Fangen wir mit dem Maß an. Wie groß ist unser Einfluss überhaupt? Die EU, nun ohne England, stellt mit 450 Mio. Menschen knapp 6% der Weltbevölkerung und hat einen Treibhausgas-Fußabdruck in CO2-Äquivalenten von rund 8 t pro Kopf und Jahr, hierzulande sind es fast 10 t. Weltweit werden knapp 5 t pro Kopf emittiert – bei 7,8 Mrd. Erdenbürgern sind das an die 40 Gigatonnen CO2-Emission, bislang noch steigend (die "Corona-Delle" bleibt abzuwarten). Damit ist unser rein quantitativer Einfluss bescheiden. Jede Tonne CO2, die wir uns in der EU pro Kopf abgewöhnen, würde durch zusätzliche 60 kg (das entspricht einigen hundert Kilometern Pkw-Fahrstrecke) bei den anderen Erdenbürgern aufgewogen.

So bleibt der Verweis auf unsere Vorbildfunktion – doch wird sich der Rest der Welt angesichts des europäischen Erscheinungsbildes noch von uns beeindrucken lassen? Eindruck machen Top-Technologien, die ohne absurde Subventionen nachhaltigere Produkte und Energieversorgungen garantieren. Technologien, die mit überschaubarem Aufwand viel bewirken, aber eben keine Meisterwerke der Verkomplizierung sind, die zwar manchen Lobbygruppen kraft ihres Overkills die Taschen füllen, uns aber kaum weiterbringen. Mit einfachen, pragmatischen Lösungen tun wir uns jedoch generell schwer.

Aber was gibt es überhaupt noch zu "retten" bzw. aufzuhalten? Viel deutet darauf hin, dass längst Kipppunkte erreicht und einige "Hauptsicherungen" aus dem komplexen, nicht-linearen Klimasystem herausgeflogen sind. Klima- bzw. regionale Wetterveränderungen lassen sich damit nicht mehr abwenden. Einige werden sogar positiv sein, andere jedoch massive Einschnitte bedeuten.

Ist es da nicht klüger, den Fokus auch auf die regional sehr unterschiedliche Anpassung zu legen? Dies wird die (Überlebens-)Frage schlechthin. Womöglich betreiben wir einen zu hohen Aufwand für eine "Klimarettung", obwohl eben vieles bereits unumkehrbar ist. Der Handlungspfad "reine CO2-Vermeidung" wäre vor 30 Jahren noch zielführend gewesen. Heute müssen wir zweigleisig fahren. Zum einen mit einer Abschwächung des Klimawandels durch wirtschaftlich leistbare CO2-Minderung, -Speicherung oder auch -Umwandlung (Nutzung als Rohstoff). Zum anderen muss jede Region eine Vorstellung über den Vor-Ort-Wandel entwickeln und sich frühzeitig darauf einstellen. Bei uns könnten Dürren und Wassermangel mitsamt ihren Auswirkungen auf die Landwirtschaft weit oben stehen. Diese Zweigleisigkeit wird entscheidend sein! Aber scheitern wir nicht schon auf einem Gleis?

Nebenbei: Schon ein schlichter Fleischverzicht (bzw. zukünftig der Verzehr von Zellkultur-Fleisch) brächte uns einen großen Schritt voran. Wir würden enorme, bisher für Futterpflanzen genutzte Flächen gewinnen. Alternativ können dort z.B. Ölpflanzen für Biokraftstoffe angebaut, Energieparks angesiedelt oder einfach nur Reserveflächen für zukünftige Dürren gewonnen werden.

Wir sind leider auf dem unguten Weg, durch unsere EU-typische Überregulierung und Überbürokratisierung einmal mehr extremen Aufwand zu verursachen und so unsere Wettbewerbsfähigkeit, Kapitalkraft und Wohlstandsbasis aufs Spiel zu setzen. Doch weder "retten" wir damit das Klima noch passen wir uns rechtzeitig daran an. Wünschenswert wären hingegen starke Resultate bei überschaubarem Aufwand – durch technologische Überlegenheit und administrative Intelligenz.

Kurzum: Wir könnten uns ganz rasch selbst nach unten in der Weltrangliste durchreichen. Und das mit einer Begeisterung, die sich sowohl aus ideologischer Verbohrtheit als auch aus naturwissenschaftlich-technischem Bildungsnotstand heraus erklären lässt.

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2020; 45(19):19-19