Corona-Winter voraus

Perspektive Dauer-Lockdown?


Prof. Dr. Reinhard Herzog

"Börsenkurse klettern die Treppe hinauf und kommen mit dem Aufzug wieder hinab." Dieses Bonmot gilt umgekehrt in der Epidemiologie: Die Infektionszahlensausen mit dem Aufzug herauf und stolpern nur mühsam wieder die Treppe hinunter. So befinden wir uns nun im "Lockdown 2.0", bislang noch in einer "Soft-Version", während um uns herum oft auf "Hardcore" umgeschaltet wurde. Schauen wir auf die Zahlen (Stand 21.11.2020).

Da sehen wir die vom Robert Koch-Institut täglich publizierten Fallzahlen. Sie markieren nur die Spitze eines Eisbergs. Sie kennen den Begriff "Dunkelziffer" noch? Nur 20% bis 30% der Infektionen, aktuell eher wieder weniger, gehen überhaupt in die Fallzahlstatistik ein – dafür aber personengenau. Der simple Grund: "What you test, is what you get." Es hängt alles an den Testkapazitäten und -modalitäten. Wer nur noch hochsymptomatische Personen testet, wird mit einer hohen Positivrate "belohnt" (zurzeit 9%, Tendenz steigend), übersieht dabei viele leichte Fälle und hat somit keine Vorstellung von der Grundgesamtheit. Umgekehrt gilt Entsprechendes; die Positivrate im Sommer betrug nur um die 0,6%. Wir wissen, dass wir das Meiste nicht wissen. Und wir tun nicht allzu viel, um dies zu ändern. Insoweit kann man hier auch die "Nachverfolgung" unter "Lebenslügen" abheften: Sie funktioniert zwar und ist auch höchst sinnvoll – allerdings bei nur sehr wenigen Infektionsherden, die konsequent ausgetrocknet werden (siehe Asien).

Die zweite Baustelle ist die Fallzahlentwicklung, wofür der berühmte R-Wert herhält: Der gerne publizierte Sieben-Tages-R-Wert gibt an, wie viele weitere Personen ein Infizierter in jenen sieben Tagen ansteckt – im Durchschnitt und mit breiten Vertrauensintervallen. Auch hier besteht viel Unsicherheit. Faktisch bestimmen wir die Infektionsdynamik, indem wir quasi den großen Zeh aus dem Fenster eines fahrenden Autos halten, um dessen Geschwindigkeit zu messen. Aber gut, zumindest Tendenzen lassen sich ableiten, ist es doch ein Unterschied, ob wir 20.000 oder 2.000 Fälle auf dem Schirm haben. Unter sehr harten Lockdown-Bedingungen erreicht man etwa eine Halbierung der Fallzahlen je Woche (R-Wert: 0,5 oder etwas darunter), mit einer Anlaufzeit von gut einer Woche. Um von 20.000 auf unter 2.000 tägliche Neuinfektionen (=Stand Anfang Oktober) zu kommen, bräuchte man drei bis vier Wochen Maximal-Lockdown plus Anfangsverzögerung. Diese 2.000 Fälle würden danach aber binnen ähnlicher oder kürzerer Zeit gerade im Winter wieder auf das Ursprungsniveau klettern: Der "Jo-Jo-Effekt". Mit einem R-Wert von 0,75 bräuchten wir acht Wochen bis zur Zehntelung, mit einem R-Wert von 0,9 gar 22 Wochen, jeweils plus Anlaufzeit. Zurzeit irrlichtern wir um einen R-Wert von 1,0 oder wenig darunter herum. Unsere augenblickliche tägliche "Kontaktrate" müsste also nochmals deutlich – um über 30%, eher 50% – sinken.

20.000 erfasste, tägliche Neuinfektionen bei einem Altersschnitt der positiv Getestesten von derzeit 42 Jahren und einer Hospitalisierungsrate von aktuell 7% bedeuten 1.400 neue Krankenhausfälle täglich (im April betrug die Rate bei einem Altersschnitt von gut 50 Jahren übrigens stolze 20%). Davon versterben gut 10%, nachdem etwa 40% der Patienten vorher noch auf der Intensivstation gelandet sind (Sterberate dort: knapp 25%). Man multipliziere die jeweiligen Fälle mit den Aufenthaltsdauern (ganz grob zehn bis 15 Tage auf der Normal- bzw. zehn Tage auf der Intensivstation), dann weiß man um die benötigten Betten. Hier ist das Personal der "Flaschenhals" und nicht die Technik. 50.000 oder gar 100.000 tägliche Neuinfektionen schafft das System kaum mehr. Dann müssten Patienten notfalls zu Hause bleiben. Es sterben schon heute mitnichten alle Covid-19-Opfer in der Klinik, obige Sterberaten bilden also nicht alles ab. 20.000 offizielle Neuinfektionen pro Tag implizieren in jedem Fall eine deutlich dreistellige Zahl täglicher Todesfälle mit etwa drei bis vier Wochen Verzögerung.

Letztlich sind alle diese Rechnungen eine demografische Wette. Angesichts einer Verzehnfachung des Sterberisikos je zusätzlichen 20 Lebensjahren hängt die Belastung des Gesundheitssystems vor allem davon ab, inwieweit Corona in die Altersklasse "80+" (mit 5,5 Mio. Personen) einbricht. Höhere Infizierungsraten bei den Hochbetagten sprengen rasch alle Prognosen und Kapazitäten. Solche Verschiebungen des Infektionsgeschehens lassen sich bei der aktuellen Dynamik kaum vorhersehen. So fahren wir epidemiologisch nicht einmal auf Sicht, sondern im Grunde Geisterbahn.

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2020; 45(23):19-19