Trotz holprigen Starts

Die Hoffnung beginnt mit I …


Prof. Dr. Reinhard Herzog

… wie Impfung gegen Corona. Doch wie berechtigt ist diese Hoffnung? Wie sehen mögliche Szenarien und Erfolgswahrscheinlichkeiten überhaupt aus? Den Apotheken kommt eine starke Rolle bei der Kundenkommunikation zu. Wie also sollten Sie demnächst argumentieren?

Der Ausweg aus der Corona-Pandemie ruht in Europa und den USA momentan ausschließlich auf einem schnellen Erfolg der Impfkampagnen, während in vielen Ländern Asiens aufgrund minimaler Fallzahlen insoweit eine entspanntere Lage herrscht. Die Politik hat hierzulande schon verlauten lassen, dass man zur Normalität zurückkehre, wenn jedem Bürger ein Impfangebot gemacht werden kann. Doch wie realistisch bzw. risikobehaftet ist das?

Wirksamkeitsdimensionen

Wir entwerfen hierzu einige Szenarien und wichtige Argumentationshilfen für Ihren Alltag und Ihre eigenen Planungen.

Manche Impfungen können nur die Erkrankungsschwere mindern, doch die Infektiosität der Patienten bleibt. Bei anderen Impfungen verhält es sich entgegengesetzt (Abbildung 1).

Nicht selten gibt es beide Effekte. Bei einer vollständigen "sterilisierenden Immunität" findet weder eine Erkrankung statt, noch wird diese weitergegeben – der Idealfall. Die Realität spielt sich irgendwo dazwischen ab – je nach Immunkompetenz und Vorschädigung der Impfkandidaten in unterschiedlicher Weise, was die Lage weiter verkompliziert. All dies steht und fällt mit der Impfrate. Tabelle 1 zeigt notwendige Impfraten bis zur Herdenimmunität, abhängig von

  • der Basisreproduktionszahl R0 (=wie viele Menschen steckt ein Infizierter durchschnittlich an, in einem für SARS-CoV-2 denkbaren Wertebereich) und
  • der mit dem Impfstoff erzielbaren Rate einer sterilisierenden Immunität ("Wirksamkeit").

Mithelfen kann eine gewisse Vorimmunisierung durch bereits Erkrankte, die zurzeit hierzulande bei 5% bis 10% liegen könnte (einschließlich unerkannter Fälle). Da jedoch besonders bei nur leichten Infektionsverläufen eine stabile Immunisierung fraglich ist, sollte man hier nicht allzu hohe Erwartungen hegen. Bei den infektiöseren SARS-CoV-2-Varianten mit R-Werten von über 4 kann es rechnerisch schwer werden, eine Herdenimmunität zu erzielen. Schon bei Wirksamkeiten im Bereich von 70% wird dies unmöglich.

Zurzeit stellen Engpässe an Impfstoff und Impfmöglichkeiten die "Bottlenecks" dar. Die gut 400 Impfzentren haben eine theoretische Kapazität von rund 0,5 Mio. Impfungen täglich. 45.000 Hausärzte könnten mit geeigneten Impfstoffen (Kühlbedingungen!) leicht eine ähnliche Größenordnung bewältigen. Die stark gefährdete Generation "80 plus" (gut 5,5 Mio. Personen, 11 Mio. Impftermine) ließe sich so theoretisch innerhalb eines Monats impfen.

Szenarien

Tabelle 2 zeigt drei Beispiel-Szenarien.

Auch bei gut 50 Mio. Geimpften und 90%igem Schutz vor einer Ansteckung wird die Herdenimmunität nicht erreicht. Selbst im Positiv-Szenario A deutet ein verbleibender R-Wert von 1,4 (gegenüber 3,75) darauf hin, dass ohne jede Schutzmaßnahmen eine, wenn auch stark gebremste, Infektionsausbreitung immer noch möglich ist. Das Risiko schwerer und tödlicher Fälle sinkt zwar um über 85%. Angesichts von etwa 0,5 bis 1 Mio. Toten im Falle einer ungebremsten Totaldurchseuchung (=Worst Case, wahrscheinlicher Bereich der Infektionssterblichkeit 0,7% bis 1,2%) bleibt aber ein beträchtliches Restrisiko. Eine völlige Rückkehr zur Normalität scheint gewagt. Das dürfte erst bei >60 Mio. Geimpften und Wirksamkeiten von >90% in allen Dimensionen wirklich sicher möglich sein.

In den Szenarien B und insbesondere C, die bei der Durchimpfungsrate bzw. der Wirksamkeit "schwächeln", sind die Restrisiken so hoch, dass die Impfung als alleinige Säule der Pandemiebekämpfung schwerlich reichen wird – zumindest wenn man nicht potenziell sechsstellige Todeszahlen und ein Mehrfaches an Krankenhausfällen in Kauf nehmen will.

Die weitere große Unbekannte ist die Wirkdauer. Schlimmstenfalls können sich die aktuell geimpften Risikogruppen im nächsten Winter schon wieder neu infizieren. An dieser Frage wird sich der Impferfolg ebenfalls entscheiden.

Viel Druck ist aus dem Kessel genommen, wenn es gelingt, die Hochrisikogruppen und hier vor allem die Älteren gut zu schützen. Das Alter ist der statistisch bedeutendste Covid-19-Risikofaktor: 80% der verlorenen Lebensjahre betreffen Männer ab dem 60. bzw. Frauen ab dem 65. Lebensjahr. 96% der an Covid-19 Verstorbenen sind mindestens 60 Jahre alt, und 68% gehören der Generation "80 plus" an. Bei den Hochbetagten liegen jedoch die größten Defizite in der Immunkompetenz.

Was ist mit den Nebenwirkungen? Die bisherigen Erfahrungen aus einigen Millionen Impfungen deuten an, dass dieses Thema angesichts der hier gehandelten Covid-19-Risiken tatsächlich (bislang) nachrangig ist. Selbst bei jungen Menschen liegt die Nutzen-Schaden-Relation weit im grünen Bereich.

Fazit

Sollten Sie nun zur Impfung raten? Ganz eindeutig ja! Was ist denn die Alternative?

Was sollten Sie bzw. Ihre Risikopatienten von der Impfung erwarten? Im Moment noch wenig! Es wäre ein womöglich tödlicher Fehler, sich als Geimpfter vollkommen sicher zu fühlen. Das geben die Daten zurzeit einfach noch nicht her. Wir werden uns wohl weit im Jahr 2022 wiederfinden, bis die Impfstoff-Studien abgeschlossen sind und Klarheit besteht. Selbst wenn die Wirksamkeit alle hochgesteckten Erwartungen erfüllen sollte, bleibt immer noch die Frage nach der Wirkdauer in den einzelnen Alters- und Risikoklassen.

Diese Widersprüche und Unsicherheiten müssen wir einstweilen aushalten. Die "alte Normalität" ist, zumindest beim derzeitigen Grad der Risikoakzeptanz und Kenntnislage, weit entfernt.

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2021; 46(02):4-4