Wie kommen wir durch den Alltag?

Zwischen Wahrheit und taktischer Lüge


Prof. Dr. Reinhard Herzog

"Manchmal muss man auch einmal die Unwahrheit sagen" – so oder ähnlich hört man das sogar von Politikern in aller Öffentlichkeit. Diese Politiker möchten dafür noch geschätzt werden, dokumentieren sie doch wenigstens insoweit Offenheit und Ehrlichkeit. Ehrlichkeit in der Lüge! Man mag dies als einen weiteren Beleg des Werteverfalls unserer Gesellschaft sehen – oder schlicht als Pragmatismus. Mit der Wahrheit ist es aber auch so eine Sache. Zum einen lässt sie sich in vielen Fällen mangels Erkenntnis gar nicht so leicht abstecken, zum anderen ist bekannt, dass derjenige, der mutig Wahrheiten ausspricht, ein schnelles Pferd braucht. Folgerichtig wusste schon Voltaire: "Alles, was du sagst, sollte wahr sein. Aber nicht alles, was wahr ist, solltest du auch sagen."

Womit wir bei einem interessanten Zustand zwischen Wahrheit und Lüge sind – dem Jonglieren mit Teilwahrheiten. Nicht zuletzt haben viele Medien das zur Perfektion entwickelt: Ein paar durchaus wahre Faktenbrocken, garniert mit viel Interpretation und einer kräftigen Portion Ideologie gemäß der gewünschten Farb- und Geschmackslehre obenauf. Gegen solcherlei Berichterstattung ist schwer anzukommen, denn ein Anspruch auf Vollständigkeit ist kaum zu normieren, meist gar nicht einmal möglich. Das eröffnet breite Grauzonen, die mit Meinung gefüllt werden können.

Aber seien wir ehrlich: Teilwahrheiten sind der Schmierstoff unserer Konsumgesellschaft. Wer würde sich noch einen teuren, schicken Sportwagen kaufen, wenn er mit einem vollständigen Abbild seiner Entscheidung – von den nicht selten horrenden Folgekosten über diverse Umweltaspekte bis hin zu den statistisch oft kräftig erhöhten Unfallrisiken – konfrontiert würde? Da heißt es doch lieber "Aus Freude am Fahren" (in praxi: " ... am Zahlen")! Würde man noch guten Gewissens in einer ausladenden Luxusimmobilie Quartier beziehen wollen oder einen Fernflug nur zum Freizeitvergnügen buchen? Wer würde übrigens uns Apotheken Vieles (erschreckend Vieles!) noch abkaufen, wenn wir Nutzen und Risiko einmal sauber gegenüberstellen würden und eines Tages gar ein solcher "Kalkulator" die Regel werden sollte? Im Übrigen zeigt sich da eine beachtenswerte Nebenfolge eines wirklich ernsthaften Medikationsmanagements. Wir als Heilberufler sollten deswegen ganz besonders sensibilisiert sein, müssen gerade wir uns doch täglich durch sehr unscharfe, einem steten Erkenntniswandel unterworfene "Wahrheiten" mit bisweilen existenziellen Auswirkungen auf die Patienten hindurchkämpfen.

Dieser Erkenntniswandel treibt manche Blüten. Die Homöopathie scheint man nun auf der "dunklen Seite des Mondes" platziert zu haben – aber ist das jetzt endgültig? Über die Aromatherapie wurde einst geschmunzelt. Inzwischen wissen wir, dass viele Zellen eine Art von "Geruchsrezeptoren" haben, sich also künftig womöglich ganz anders adressieren lassen – ein höchst spannendes Gebiet! Ähnliches gilt für die Mikrobiomforschung: Vor nicht allzu langer Zeit wurde die naturheilkundliche Erkenntnis "Wie der Darm, so die Gesundheit!" noch belächelt. Die vielen sonstigen Irrungen in Wissenschaft und Technik würden Bücher füllen. Wer hätte beispielsweise vor 100 Jahren die gigantischen Auswirkungen der Elektronik erahnt?

Da hilft einstweilen die Flucht in die Welt der Zahlen auf Grundlage des bislang Beobachtbaren. Damit sind wir in der Statistik angekommen. Im Hinblick auf die kommenden Impfdebatten schadet ein wenig diesbezügliches Rüstzeug nicht. Auch hier ein bekannter Spruch: "Statistik ist die Steigerung der Lüge!" Zahlenakrobatik kann der gekonnten Wahrheitsverdrehung dienen, zumindest aber der raffinierten Täuschung, ohne evident zu lügen: "Selbst schuld, wenn der Leser Statistiken nicht interpretieren kann!" Das ist gekonnt perfide!

Ähnlich talentiert sind da noch die "Paragrafenakrobaten", auch Juristen genannt. Sie schaffen es, selbst einfache Sachverhalte hochgradig zu abstrahieren und zu verklausulieren. Angesichts der vielfältigen Interpretationen und Auslegungen, die diese Profession letztlich in Lohn und Brot halten, können da am Wahrheitsbegriff schon mal Zweifel aufkommen!

Und Sie? Wie halten Sie es täglich so mit der "Wahrheit" – und in welchem Kontext?

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2021; 46(02):19-19