Zeitalter der Elektrifizierung

Das Ende des Feuers


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Dem Feuer wohnte schon immer etwas Mystisches inne. So ziemlich alle Tiere zeichnet eine angeborene Angst vor dieser Erscheinung aus, die bei uns bis in die Neuzeit hinein sogar als Element galt. Die Furcht ist bei den Menschen inzwischen einer weitgehenden Beherrschung und Nutzung gewichen.

Physikochemisch handelt es sich beim Feuer schlicht um heiße Verbrennungsgase infolge rascher Oxidation. Rußpartikel sorgen für die gelbe Färbung, ohne diese bliebe das Ganze farblos. Andere Elemente sorgen für schöne Farbenspiele, was die Feuerwerkerei zur Perfektion entwickelt und so manche Studienanfänger naturwissenschaftlicher Fächer in Form der "Flammenprobe" schon zur analytischen Verzweiflung gebracht hat.

Richtig Zug kam in den Wohlstandskamin der Geschichte jedoch erst, nachdem man das Feuer nicht nur einfach gebändigt hatte, sondern seine Kraft auch vermittels Druckbehältern zu nutzen wusste. Das Zeitalter der "Wärmekraftmaschinen" war mit dem 18. Jahrhundert geboren. Dampfkessel und der Verbrennungsmotor nutzen das Wechselspiel zwischen Erhitzung und Abkühlung, zwischen Druckaufbau und -abbau, eingerahmt von den thermodynamischen Hauptsätzen und Gasgesetzen, die ebenfalls Quell so mancher studentischer Schweißperle auf der klausurgeplagten Stirn sind. Wir haben die Verfahren so perfektioniert, dass heute ein kleines Motörchen mit einem limonadenflaschengroßen Hubraum Leistungen entfacht, die unser eigenes Vermögen gerne um den Faktor hundert bis tausend übersteigen. Während wir uns anstrengen können, wie wir wollen, und mit unserer Körperleistung nicht einmal ein Spiegelei gebraten oder die Haare achtbar gefönt bekämen (weil kaum mehr als 500 Watt drin sind, bei vielen Zeitgenossen weit weniger), erzielt besagter Motor mit einem Liter Hubraum auf einer Grundfläche, die nur wenig größer ist als diese Zeitschrift, locker 100.000 Watt.

Erst diese Beherrschung und Nutzung der (Verbrennungs-)Energien hat uns dahin gebracht, wo wir heute stehen. Noch atemberaubend-teuflischer wird es, wenn wir nicht nur die Elektronenhüllen kitzeln wie bei der Verbrennung, sondern uns an die Atomkerne wagen. Bekanntermaßen ist das seit vielen Jahrzehnten möglich. Für eine Energieausbeute, für die wir sonst eine Tonne klassischen Verbrennungsmaterials bräuchten, reichen hier wenige Gramm. Das ist so diabolisch, dass manche Zeitgenossen und Nationen – in Ehrfurcht, Angst und Risikoaversion erstarrt – hiervon besser wieder die Finger lassen.

Ungeachtet dessen: Wie schön wäre es, wenn dieser Wohlstandszug einfach so weiterfahren würde? Zwar ist jedem klar, dass die Vorräte fossiler Brennstoffe einmal zu Ende gehen werden. Doch dieser Zeitpunkt läge, sofern man die ganzen Kohlevorkommen oder gar Methanquellen auf dem Tiefseegrund einbezieht, in geradezu beruhigender Ferne. Ja, wären da nicht die Kehrseiten der Verbrennung, das "Klimagas" CO2 ganz an der Spitze! Das haben wir nämlich noch nicht gebändigt, obwohl es auch hier andere, über die bloße Vermeidung hinausgehende Ansätze gäbe.

Gleichwohl deutet sich ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel an: Weg vom Feuer, egal welcher Art! Ob noch einmal Wasserstoff-Flammen in großer Zahl brennen werden, ist angesichts der Energiebilanz des Wasserstoffs fraglich. Und in einer Brennstoffzelle lodern keine Flammen mehr, anders als es der Name vermuten lässt. Ob klimaneutrale Biokraftstoffe das Rennen machen, ist höchst ungewiss – egal ob sie durch Fleischverzicht und Umwidmung von Futterpflanzenflächen, als Speicherform überschüssiger Wind- und Sonnenenergie oder gar aus Algen gewonnen werden. Zurzeit rollt der Zug der durchgreifenden Elektrifizierung, und zwar weltweit. Der Öltank von morgen ist die Akkuzelle mit allen Implikationen. Nach unserem bislang modernen Industriezeitalter steht nun eine Art "postindustrielles" Elektrozeitalter an.

Da ist es gar nicht so weit hergeholt, dass ein Feuerzeug in einigen Jahren als ein gefährlicher Gegenstand verboten sein wird ähnlich wie heute eine Schusswaffe. In unserer Null-Risiko-Gesellschaft liegt das nahe. Nebenbei erübrigt sich damit so manch Laster wie das Rauchen, und die ehemalige Flammenfärbung im Praktikum findet sowieso nur noch virtuell-digital statt. Die Nikotinpflaster aus der Apotheke braucht man dann übrigens auch nicht mehr.

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2021; 46(07):19-19