Vom Versandhandel (nicht) lernen (Teil 1)

Ungebremstes Wachstum


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Ein mutmaßlich dauerhafter Gewinner der Corona-Pandemie – und zwar quer durch alle Branchen – steht bereits fest: Der Versandhandel. Ein Blick auf die wichtigsten "Key Facts" zeigt nicht nur das ganze Bedrohungspotenzial, sondern auch, welche Chancen es gibt, dagegenzuhalten.

Annähernd 1,8 Mrd. € zu Listen-Herstellerpreisen betrug der gesamte von DatamedIQ (Datenlieferant u.a. für Insight Health) erfasste Non-Rx-Umsatz des Versandhandels im abgelaufenen Jahr 2020. Diagnostika sind dort traditionell ausgeklammert, dieser Markt dürfte sich zu Herstellerpreisen noch unterhalb von 500 Mio. € bewegen – wovon man einen für den Versand typischen Anteil von etwa 15% bis 20% annehmen kann.

Zu realen Verkaufspreisen brutto stand dieser Non-Rx-Versandmarkt für rund 2,5 Mrd. €: Ein Plus von 14,4% am Gesamtmarkt, der sich auf 10,8 Mrd. € (–2,0%) ohne und rund 11,5 Mrd. € mit Diagnostika beziffern lässt. Umgerechnet auf die typischen Verkaufspreise der Offizin-Apotheken dürften es etwas mehr als diese 2,5 Mrd. € sein, dann allerdings netto – der Versand bietet schließlich im Schnitt rund 15% bis 20% billiger an.

Dieser Preisabstand hat sich übrigens im Frühjahr 2020 in der Spitze um etwa 5%-Punkte verringert, weil die Versandpreise gestiegen sind, während die Apotheken ihre Preise gehalten haben. In jüngster Zeit nimmt der Preisabstand wieder ein wenig zu.

Nach Stückzahlen steht das Non-Rx-Segment ohne Diagnostika für 1.009 Mio. Packungen (–5,5% gegenüber 2019), wovon der Versand 209 Mio. (+12%) für sich abzweigt (nach Angaben von IQVIA: 222 Mio. Packungen und +14,4%, hier einschließlich Tests). Pro Offizin-Apotheke "fehlen" hierdurch also insoweit jährlich gut 11.000 bis 12.000 Packungen.

Bedenkliche Top-Produkte?

Top-Präparate nach Stückzahlen im Versand waren laut DatamedIQ Nasenspray ratiopharm (8,35 Mio. Packungen), gefolgt von Nasenspray Aliud Pharma (3,43 Mio.), Voltaren Schmerzgel (3,12 Mio.), Nasic (2,31 Mio.), Nasenduo ratiopharm (1,76 Mio.) sowie Magnesium Verla (1,55 Mio.). Otriven und Olynth spielten mit 1,38 und 1,35 Mio. Packungen ebenfalls noch in der Millionen-Klasse. Die Häufung der Nasensprays ist insoweit schon auffällig, zumal es sich hier überwiegend um Billigprodukte mit einem begrenzten Einsparpotenzial handelt.

Der Rx-Versandmarkt ist schwieriger zu überschauen. Die vorläufigen Rechnungsergebnisse der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) weisen 457 Mio. € brutto für Arznei- und Verbandmittel aus dem Versandhandel insgesamt aus. Zusammen mit den nicht ganz unbedeutenden Privatverordnungen dürfen wir realistisch von einem Rx-Versandmarkt in der Gegend von 500 Mio. € netto bei rund neun bis zehn Mio. Packungen ausgehen, also von einem Marktanteil von gut 1%.

Nicht ganz überraschend, aber doch in der Gesamtschau bezeichnend ist ein Zehn-Jahres-Vergleich (Abbildung 1). Er illustriert, welche Dynamik der Versand im Non-Rx-Segment entfaltet hat, während das Rx-Segment (stellvertretend abgebildet: der GKV-Umsatz) noch weit zurückliegt – und das, obwohl der Rx-Markt nach Umsatz mehr als viermal so groß ist wie der Non-Rx-Markt. Gleichzeitig ist die Zahl der Apotheken von 21.441 Ende 2010 um 12,5% auf 18.753 Ende 2020 gesunken.

Strukturdaten des Versands

Tabelle 1 zeigt einige Kennzahlen des Versandhandels, wie sie sich aus den Geschäftsberichten vorrangig der Shop Apotheke Europe und der Zur Rose Group herauslesen lassen.

Die Umsätze je Bestellung liegen etwas über, die erzielten Margen jedoch unter jenen der Vor-Ort-Apotheken. Der Rohertrag je Versandbestellung liegt mit rund 10 € bis 14 € in etwa auf dem Niveau des durchschnittlichen Ertrags je Bonkunde vor Ort. Dieser Ertrag ist pandemiebedingt sogar noch gestiegen, da sich die Umsätze auf weniger Kundenbesuche konzentrieren. Allerdings schwanken die "Korberträge" je nach Lage der Apotheke erheblich, von sehr deutlich unter 10 € in Lauf- und Centerlagen bis auf teils merklich über 15 € in Ärztehäusern.

Selbst die Personalkosten der Versandapotheken sind höher als viele denken – wie auch die sonstigen Kosten. Während eine Shop Apotheke mit 7% Personalkosten vom Umsatz bzw. rund 30% vom Rohertrag erheblich günstiger als unsere Apotheken abschneidet, wendet der Zur-Rose-Konzern 9,6% seines Umsatzes für Personal auf – und beachtliche 59% des erzielten Rohertrags. Gerade bei Letzterem liegt er erheblich über einer stationären Apotheke.

Bezeichnend sind auch die weitaus höheren Marketingaufwendungen, die 4% des Umsatzes betragen können. Kalkuliert man zudem die beträchtlichen Kapitalkosten mit ein, werden nach wie vor rote Zahlen geschrieben.

Klimasünder Versand?

Das Thema Umweltschutz ist bei den Versendern durchaus angekommen. Die Shop Apotheke Europe proklamiert für sich seit Oktober 2020 Klimaneutralität – u.a. durch Kompensationsgeschäfte. Je Bestellung fallen ansonsten 0,93 kg CO2 in der gesamten Wertschöpfungskette von der Belieferung bis zur fremdbeauftragten Logistik an (Stichwort: "Scope 1-, 2- und 3-Emissionen"). Das entspricht – bei rund vier Packungen pro Bestellung – 0,23 kg je Packung.

Stationäre Apotheken weisen oft ähnliche Werte allein für ihren Energiebedarf auf. Dazu kommen allfällige Dinge wie Verbrauchsmaterial, Instandhaltungsaufwendungen und Technik, indirekte "importierte" Werte (z.B. Großhandelsbelieferungen) sowie der Anfahraufwand der Kunden, um überhaupt erst in die Apotheke zu gelangen. Gerade dieser Aufwand ist je nach örtlichen Gegebenheiten nicht zu unterschätzen. Das Argument "Versand=Klimasünder" entblättert sich da rasch, zumal eine höhere Auslastung die Werte künftig eher verbessert.

Fazit

Der Versand erobert momentan vorrangig im Non-Rx-Markt seine Marktanteile, wobei ihm das Pandemiegeschehen Rückenwind gibt. Die Furcht vor analogen Entwicklungen im Rx-Segment angesichts der Digitalisierung des Rezepthandlings ist berechtigt. Gleichwohl zeigen die Rentabilität und die Kostenstrukturen im Versandhandel ihre Schwachstellen – die wir erkennen und nutzen sollten.

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2021; 46(07):4-4