Infantilisierung der Gesellschaft

Eine neue Form von Verjüngungskur


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Mit einem Medianalter von 46 Jahren ist Deutschland eines der demografisch gereiftesten Länder der Welt. Sechs Millionen Bürger zählen 80 Lenze und mehr – was uns in der Corona-Pandemie bei der Risikoverteilung schmerzlich bewusst wurde. Umso erstaunlicher ist die sprachliche und gesellschaftspolitische "Verjüngungskur" im Schnelldurchgang. Gefühlt läuft auf den medialen Kanälen seit über einem Jahr "Die Sendung mit der Maus". Unser Medianalter scheint auf unter zehn Jahre gefallen zu sein. Wir staunen über die kleinkindgerechte Ansprache sowie die erkenntnistheoretisch beachtliche Humanisierung eines strohdummen Stücks umhüllter RNA (man könnte meinen, Viren hätten Augen und Ohren und würden ihre Schandtaten ganz genau aushecken).

Als mündige Bürger tanzen wir nach dem erhobenen Zeigefinger und folgen widersprüchlichsten, geradezu grotesken Regelwerken (oder tun wir oft nur so?). Eine Irrenanstalt erscheint da als Hort geistiger Gesundheit und Ausgeglichenheit. Klare Ziele hingegen sind eher Mangelware. Immer noch soll es die Wunderwaffe "Impfung" richten – wobei sich dieses Wunder so langsam auch medial entblättert und Stück für Stück einer realistischeren Sicht weicht. Corona lässt sich nicht en passant wegimpfen.

Der offizielle Diskurs wird konstant von einer sehr begrenzten Zahl an Meinungsbildnern quasi mit Dauerabo in den Massenmedien bestritten. Seriöse Wissenschaft vermischt sich immer bedenklicher mit mehr oder minder verkürztem und verdichtetem Wissenschaftsjournalismus – von dort ist der Weg zur Meinungsmache bis hin zur Ideologie nicht mehr weit. Dabei besteht der Trick im klugen Weglassen von Fakten, nicht in der offenkundigen Lüge. Auch so kann man Diskursen eine Richtung aufzwingen.

Die nicht mehr so neue Pandemie-Ausnahmesituation ist das eine. Dass sie jetzt als Scharnier für eine grundlegende Gesellschaftsveränderung ge- oder gar missbraucht wird, das andere. Was macht demnächst ein schlimmstenfalls vorrangig für andere Ziele ideologisierter "Klimaschutz" mit dem gesellschaftlichen Klima? Was, wenn die ineffiziente Pandemiebekämpfung die Blaupause liefert für eine ähnlich laienhafte und verschwenderische Ressourcenallokation? Exorbitanter Aufwand für recht wenig Erfolg, das ist ja eine deutsche Spezialität!

Da ist die Infantilisierung der Gesellschaft das Machtmittel der Zukunft. In einem pater- bzw. maternalistischen Staat heiligt der Zweck die Mittel, ist der Staat doch per se schon einmal gutmütig. Welche noch so gestrenge Mutter, welcher noch so gestrenge Vater wünschte denn den eigenen "Schutzbefohlenen" etwas Schlechtes? Eben! Schon länger können aufmerksame Beobachter einen gesellschaftlichen Regradationsprozess hin zur Geborgenheit des Mutterschoßes erkennen. Jeder Schritt wird nur noch unter "Risikofolgeabschätzungen" gegangen.

Wir verschanzen uns in immer massiveren Blechburgen voller Assistenten, umgeben von einer Airbag-Armada. Der fürsorgliche Staat nimmt uns gefährliches Spielzeug aus der Hand, ob Waffen (unter die heute selbst kleine Taschenmesser fallen können), Chemikalien oder immer mehr Alltagshelfer aller Art. Es ist nur folgerichtig, dass eine solche gefahrenminimierende Gesellschaft sich auch anderer Bereiche annimmt. Die Sprache steht da inzwischen ganz oben. Also bereinigen wir diese um jedwedes (vermeintliche) Gefährdungspotenzial. Die gerade aufblühende "Cancel Culture" ist insoweit nur die logische Fortsetzung einer Verbotskultur um der guten Sicherheit willen. Gezielt geschürte Panik und blanke Existenzangst treiben die Menschen ins (Pseudo-)Religiöse. Es liegt auf der Hand, dass die Inquisition wieder erblüht – nur eben in moderner Form. Wie immer stellt sich die Frage: Cui bono?

Am Ende könnten wir – weitgehend intrinsisch gefahrenbefreit und nur von liebevollen Worten umhüllt – hundert Jahre alt werden, ohne je im alten Sinne gelebt zu haben. Ist das ein Fortschritt – und falls ja, für wen? Wir Heilberufler mögen das pro domo sogar gutheißen. Wenn uns da die Natur mit ihrer ganzen evolutionsbiologischen "Fantasie" nicht mal einen Strich durch die Rechnung macht. Überhaupt ist Evolution viel emotions- und moralfreie Statistik. Wir sollten gewarnt sein und vielleicht eher robuster und resilienter statt immer empfindlicher und reizbarer werden.

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2021; 46(11):19-19