Chance oder Risiko?

Ausnahmesituationen=Kaufgelegenheiten?


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Kaufen, wenn die Kanonen donnern“ – so lautet eine altbekannte Börsenweisheit. Wer sie beherzigt und gerade in Krisenzeiten den Mut aufgebracht hat, „antizyklisch“ zu kaufen, wurde regelhaft schön belohnt. Wer dagegen im Zenit einer „Milchmädchen-Rallye“ einsteigt, kann nur verlieren und im Falle fundamental sehr gut aufgestellter Werte wenigstens hoffen, dass die Delle bald wieder ausgeglichen wird. Andernfalls drohen langfristige Verluste. Doch gilt Vergleichbares auch für Apotheken? Sind jetzt gute Zeiten für eine Übernahme oder gar eine Neugründung?

Inzwischen ist offiziell, was Kundigen schnell klar war: Wer clever auf der Corona-Welle geritten ist, konnte ordentliche bis außergewöhnliche Zusatzgewinne einfahren. Das sollte die Apothekenwerte treiben und Optimismus versprühen – der auch künftig berechtigt sein könnte, falls Corona tatsächlich zur „Dauerwelle“ wird und nach der Delta-Mutation im Abstand von jeweils einigen Monaten das griechische Alphabet weiter durchlaufen wird. Zumindest virologisch spricht sogar einiges dafür: „Lambda“ wurde schon gesichtet.

Beim Blick auf die Kassenlage wird aber auch klar, dass das Füllhorn nicht mehr so kräftig ausgeschüttet werden dürfte. Wer also heute eine Apothekenübernahme ins Auge fasst, ist gut beraten, die wirtschaftlichen Verzerrungen durch die Sonderkonjunktur der vergangenen Monate sorgfältig herauszurechnen und die Apotheke auf ihr Kerngeschäft und ihren bisherigen Trend vor Corona zurückzuführen. Andernfalls drohen böse Überraschungen.

Ungeachtet so manch schöner Gewinne haben sich nämlich die Standortwertigkeiten verschoben, von vielen noch gar nicht recht bemerkt. Es spricht einiges dafür, dass die Lage von vor 2020 nicht mehr zurückkehren wird. Dafür sorgen schon die dauerhaften Strukturveränderungen, am augenfälligsten im Gefolge der Digitalisierung. Apotheken werden immer stärker danach bewertet werden, wie es um ihren „digitalen Standort“ bestellt ist. Die Passantenfrequenzen von einst sind, erst recht künftig, die Besuchszahlen auf diversen Portalen und Webseiten, die initiativ erfolgten Kundenbestellungen von außen sowie die Anzahl der erbrachten telepharmazeutischen Leistungen.

Sicher, Top-Standorte werden immer eine Zukunft haben und tendenziell im Wert steigen, schon allein, weil rechts und links weiterhin schwache Konkurrenten aufgeben werden. Dieser Friedhofsdividenden-Effekt trägt lange. Doch was zeichnet heute noch einen Top-Standort aus? Ein Mix aus sehr guter Ärzteanbindung und belebter Lauflage wird nach wie vor unschlagbar sein. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die teils unverschämten Mieten noch zukunftsfähig sind – auch für die Vermieter, denen Leerstand nichts nützt. Weiterhin wird es die perfekt vor Ort in das Sozialleben integrierte Apotheke mit einer sehr hohen persönlichen Kundenbindung geben, das Modell „Kuschel-Apotheke“. Das Pfund ist hier weniger der Standort als die Person des Betreibers, der das Marktpotenzial optimal abschöpft. Potenzielle Käufer sollten genau hinschauen, ob sie in die Fußstapfen des Vorgängers treten können. Als lediglich „professionell“ geführte Filiale wird das besonders schwierig. Demzufolge bezahlt man als Käufer schnell den Preis für einen Gewinn, den man kaum halten kann.

Daneben werden Standorte aus der „zweiten Reihe“ glänzen: Gute Erreichbarkeit, ein prinzipiell hohes, umverteilbares Marktpotenzial vor Ort, eine günstige, gleichwohl großzügige Raumsituation mit der Möglichkeit für neue Zusatzdienstleistungen sowie eine Versand- und Botendienstlogistik, kombiniert mit kreativem Marketing und hervorragender „digitaler Sichtbarkeit“: Das dürfte einen Top-Standort der Zukunft markieren!

Schnäppchenjäger werden ebenfalls auf ihre Kosten kommen, wenn sie räumlich flexibel sind. Angesichts eines sich abzeichnenden E-Rezept-Chaos, drohender neuer Corona-Wellen und politischer Unwägbarkeiten mag sich manche Kollegin bzw. mancher Kollege im nahenden Rentenalter fragen, ob sie oder er sich das noch antun soll – oder ob nicht gewonnene Lebensqualität mehr zählt. Dieses Zeitargument könnte manchen entschlossenen Kaufinteressenten in die Hände spielen, sofern sie für sich klare Grenzen ausgelotet haben und clever zu verhandeln verstehen.

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2021; 46(14):19-19