Mutanten versus Impferfolg

Droht wieder ein „Corona-Herbst“?


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Die Pandemie will einfach nicht weichen, die Natur zieht mit den Virus-Mutationen stets neue Register. Ein hohes Infektionsgeschehen droht, auch in der kommenden Herbst-Winter-Saison das Leben und damit den Apothekenbetrieb einzuschränken. Doch manches ist nun anders.

Man glaubte sich schon nahe am Ziel. Doch dann vereitelten im Winter Mutationen wie die „Briten-Variante“ (neu: „Alpha“) niedrige Infektionszahlen und zwangen erneut in einen „Lockdown“. Jetzt könnten die Impfungen zwar gut durchlaufen, da die Impfstoff-Verfügbarkeit keinen Engpass mehr darstellt – doch hakt es nun an der Impfbereitschaft.

Zudem funkt die „Delta-Variante“ dazwischen, sie bestimmt fast das gesamte aktuelle Infektionsgeschehen. Diese neue und wohl mitnichten letzte Kreation aus der molekularstatistischen Mutantenküche zeichnet sich am prägnantesten durch eine erheblich höhere Infektiosität aus – sichtbar an der bekannten Basisreproduktionszahl, die nun bei 6 bis 8 gesehen wird (vergleichbar etwa den Windpocken!), während die Ursprungsvarianten bei um oder etwas über 3 lagen (Abbildung 1).

Getrieben wird dies durch höhere Viruslasten, die sich zudem schneller aufbauen. Inwieweit mehr bzw. schwerere Erkrankungen die Folge sind, ist nicht ganz sicher. Kanadische Auswertungen deuten darauf hin, dass sich die Sterberaten in etwa verdoppeln und die Hospitalisierungsraten sogar verdreifachen könnten. Die Datenbasis ist noch dünn, die statistische Streubreite hoch. Der Trend zu einer (etwas) höheren Virulenz hält aber (einstweilen noch) an.

Dagegen büßen unsere verwendeten Impfstoffe bislang wenig beim Schutz vor schweren Verläufen ein (wobei die mRNA-Impfstoffe mit einer im Schnitt immer noch über 90%igen Schutzwirkung am besten abschneiden). Größere Schwächen werden hinsichtlich des Schutzes vor einer Ansteckung sichtbar, der je nach Impfstoff knapp unter 90% bis teils deutlich unter 70% hinsichtlich symptomatischer Verläufe beträgt.

Problem Fluchtmutationen

Künftig „erfolgreiche“, rasch dominant werdende Mutanten – insbesondere „Fluchtmutationen“ unter dem Impfschirm hindurch – dürften diesen Ansteckungsschutz allein aufgrund ausbreitungskinetischer Erwägungen weiter unterlaufen. Inwieweit davon die Erkrankungsschwere tangiert wird, lässt sich seriös kaum vorhersagen – zu vieles ist denkbar. Bisher sind jedoch keine Abschwächungstendenzen erkennbar, eher im Gegenteil. Letztlich bedeutet das alles:

  • Eine klassische „Herdenimmunität“ liegt in weiter Ferne, schon allein rechnerisch. Zu ansteckend sind die neuen Varianten (und noch ansteckender dürften künftige sein), als dass dies durch eine nicht sterilisierende Impf-Immunität einzufangen wäre. Möglicherweise gelingt das zwar in Zukunft, z.B. mit nasal applizierbaren Zusatzimpfungen. Die heutigen Impftechnologien sind damit aber in erster Linie eine Maßnahme zur individuellen Risikosenkung – mit allen Implikationen der Nutzen-Risiko-Abschätzung.
  • Überschattet wird dies von einem verblassenden Impfschutz vor allem in den gefährdeten, höheren Altersklassen – Nachimpfungen laufen an.
  • Viele Einschränkungen werden bleiben. Die Unterscheidung „geimpft“/„ungeimpft“ ergibt epidemiologisch wenig Sinn, wenn Geimpfte nach wie vor nennenswert ansteckend sind – worauf vieles hindeutet. Politisch ist das heikel.

Diese Gemengelage verspricht eine weitere Herbst-Winter-Saison voller Überraschungen. Dennoch ist einiges anders als vor einem Jahr. Tabelle 1 zeigt dazu drei Impfszenarien, angepasst an die ansteckende Delta-Variante (Annahme: R-Wert=7).

Das optimistische Szenario A mit 90% Durchimpfung (was auch die Impfung von Kindern bedeutet) erreicht so gerade das Ziel, den künftigen R-Wert (der ja das mögliche Ausbreitungspotenzial markiert) auf oder leicht unter die Schwelle von 1 zu drücken. Basis-Hygienemaßnahmen sind weiterhin sinnvoll. Das Risiko schwerer bzw. tödlicher Verläufe sinkt dank Impfungen um deutlich über 90%.

Nichtsdestotrotz umfasst das theoretische Restrisiko hier noch einen höheren fünfstelligen Bereich an möglichen Covid-19-Toten und ein Mehrfaches an Krankenhausfällen. Kritisch und nur schwer fassbar sind dabei die zahlreichen Risikopatienten mit ungenügender Immunisierbarkeit. Dennoch sollten in diesem Szenario die Pandemie ganz gut beherrschbar und flächendeckende Ausbrüche sehr unwahrscheinlich sein – wenn eben nicht weitere Mutationen, ein verblassender Impfschutz und ein doch nicht so hoher Schutz vor Ansteckung (hier noch mit durchwegs guten 90% angenommen) für Komplikationen sorgen.

Die Szenarien B und C verfehlen die Ausbreitungskontrolle deutlich (R-Wert). Die Erkrankungsschwere wird zwar noch stark gemindert, doch drohen potenziell schwerst Erkrankte im sechsstelligen Bereich. Eindämmungsmaßnahmen dürften weiter nötig sein.

Dies sind nur Modellrechnungen, die aber zeigen, dass eine völlige Öffnung vorerst schwierig und wohl nicht über den Winter hinweg durchhaltbar sein wird.

Praktische Konsequenzen

Für die Apotheken heißt es:

  • Bereiten Sie sich auf eine neue Testwelle vor (Antigentests, Tests auf den Immunstatus nach Impfung?). Stellen Sie sich darauf ein, dass die Tests auch privat bezahlt werden müssen. Wie die Preise aussehen, wird der Wettbewerb entscheiden. Machen Sie sich Gedanken, wie weit Sie nach unten mitgehen!
  • Lockdowns bleiben, abseits aller Äußerungen der Politiker, eine Option, deren Wirkkraft aber mit steigenden R-Werten immer mehr leidet.
  • Dann ist da das Thema Weihnachten: Die „vierte Welle“ vor Augen, stehen hinter Weihnachtsmärkten und Co. große Fragezeichen.
  • Wird es diesmal eine Erkältungs- oder gar Grippewelle geben? Manche Immunologen gehen davon aus, u.a. als Konsequenz einer gewissen „Entwöhnung“ von den klassischen Atemwegserkrankungen durch die Hygieneregeln. Es drohen Mehrfachbelastungen.
  • Ein Problem könnte wiederum das Thema Quarantäne im Team werden – bzw. auch bei Kunden, was zusätzliche Auslieferaktivitäten bedeutet.

Es bleibt spannend! Wir stehen nicht am Ende, sondern am Anfang eines Adaptionsprozesses zwischen Mensch und Virus, in dessen Verlauf sich – unabhängig von der (Un-)Sinnigkeit vieler Maßnahmen – fast alle von uns einmal Corona einfangen werden. Fragt sich dann nur, ob geimpft oder nicht, und auf welchem Impfschutz-Niveau!?

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2021; 46(16):4-4