Wer überwacht hier eigentlich wen?

Was Sie zum Sichtbezug wissen sollten


Dr. Dennis Effertz

Der Sichtbezug in der Apotheke kann die Versorgung von Substitutionspatienten deutlich verbessern. Viele von Ihnen wollen diese ursprünglich ärztliche Leistung daher anbieten. Doch welche rechtlichen Regularien müssen Sie beachten – und welche Vergütung ist vorgesehen?

Die Substitutionsbehandlung von opioidabhängigen Patienten gehört schon seit Längerem zur Regelversorgung. Inzwischen zählen auch Apotheken zu denjenigen Einrichtungen bzw. Personengruppen, die diesen Patienten Substitutionsarzneimittel nach §5 Abs. 1 Satz 2 Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung (BtMVV) zum unmittelbaren Verbrauch überlassen dürfen. Voraussetzung: Sie haben einen entsprechenden Vertrag mit dem Arzt geschlossen – die sogenannte „Vereinbarung über den Sichtbezug“ nach §5 Abs. 10 Satz 2 Nr. 2 BtMVV (vgl. Service am Ende des Beitrags).

Ganz klassisch

Um zu verstehen, was Sie im Rahmen des Sichtbezugs beachten müssen, ist ein Blick auf die Regelversorgung geboten – also auf jenen Fall, in dem entweder

  • der Substitutionsarzt selbst,
  • sein Vertreter oder
  • sein medizinisches Personal

einen Patienten dadurch behandelt, dass er ihm ein Substitutionsarzneimittel zum unmittelbaren Verbrauch in der Arztpraxis überlässt. Dies ist insbesondere zu Beginn der Therapie angezeigt.

In Ausnahmefällen, die in §5 Abs. 8 und 9 BtMVV näher definiert sind, dürfen Ärzte außerdem

  • „Wochenend-Rezepte“ (zusätzlich zum „S“ für „Substitution“ mit „Z“ gekennzeichnet) und
  • „Take-Home-Verschreibungen“ (zusätzlich zum „S“ mit „T“ gekennzeichnet)

ausstellen, die Apotheken zur Abgabe und die Patienten zur eigenverantwortlichen Einnahme der Substitutionsarzneimittel berechtigen. Zudem sind Mischverordnungen zulässig, auf denen die entsprechenden Medikamente sowohl für den Sichtbezug als auch für die Mitnahme verschrieben sein können.

Aber auch in den beiden Ausnahmefällen agieren Sie in Ihrer originären Rolle als Apotheker. Denn nach §13 Abs. 2 Betäubungsmittelgesetz (BtMG) dürfen Sie den Patienten Substitutionsarzneimittel zur eigenverantwortlichen Einnahme überlassen, wenn Ihnen eine ärztliche Verschreibung vorliegt, die den Anforderungen der BtMVV genügt – somit handelt es sich hier um eine „klassische“ Abgabe im arzneimittelrechtlichen Sinne, die zudem Ihnen als Apotheker vorbehalten ist.

Nun geben Sie das Substitutionsarzneimittel bei einem „regulären“ Sichtbezug allerdings nicht an den Patienten selbst, sondern an den Arzt oder die beauftragte Einrichtung ab, eventuell sogar per Botendienst. Damit geht das Arzneimittel formal in den Bestand des Arztes bzw. der Einrichtung über, wo es dann auch gelagert wird. Der Substitutionsarzt wird folglich zum Verwalter des Patienteneigentums, über das der Patient selbst somit weder die Sachherrschaft noch die Verfügungsbefugnis besitzt.

Hinweis: In all diesen Situationen müssen Sie Ihren betäubungsmittelrechtlichen Nachweispflichten gemäß §13 BtMVV nachkommen und dürfen die „Betäubungsmittel (BtM)-Gebühr“ gemäß §7 Arzneimittelpreisverordnung (AMPreisV) abrechnen.

Der Arzt als Ihr Chef?

Der Sichtbezug – also jenes Überlassen zum unmittelbaren Verbrauch – stellt genau genommen einen zweiten Schritt nach der Abgabe des Substitutionsarzneimittels dar und ist eigentlich eine ärztliche Leistung. Wenn Sie ihn nun anstelle des Arztes – als freiwillige Leistung (!) – in Ihrer Apotheke durchführen, übernehmen Sie neben Ihrer originären (Abgabe-)Rolle eine weitere Funktion. In der Folge lässt sich der Sichtbezug als Tätigkeit einordnen, die einer Heilbehandlung ähnlich und somit umsatzsteuerbefreit ist (vgl. Abschnitt 4.14.4 Abs. 11 Nr. 14 Umsatzsteuer-Anwendungserlass).

Eine wesentliche Besonderheit des Sichtbezugs in der Apotheke: Es handelt sich um eine Leistung, die der Arzt mit der „Vereinbarung über den Sichtbezug“ im weitesten Sinne an Sie delegiert.

Tipp: Damit kein Konflikt mit dem Zuweisungsverbot entsteht, sollte die Initiative vom Patienten selbst ausgehen. Weiß er, dass Sie den Sichtbezug grundsätzlich anbieten, und will er dieses Angebot auch wahrnehmen, sollte er seinem Arzt diesen Wunsch mitteilen. Sie können ihn dabei selbstverständlich unterstützen.

Die „Vereinbarung über den Sichtbezug“ regelt nicht nur die Details der Durchführung. Vielmehr garantiert sie dem Arzt auch die therapeutische Verantwortung und räumt ihm weitreichende

  • (Ein-)Weisungs-,
  • Lager- und
  • Kontrollrechte ein.

Zudem normiert die Vereinbarung auch, welchen Informationspflichten Sie nachkommen müssen. Das heißt im Klartext: Sie üben jegliche in diesem Zusammenhang ausgeführten Tätigkeiten unter der Anleitung, Verantwortung und Kontrolle des Arztes aus. Wie eng die Überwachung tatsächlich ist, hängt davon ab, wie Sie die Vereinbarung konkret ausgestalten.

Die Substitutionsarzneimittel geben Sie somit zwar weiterhin zunächst eigenverantwortlich ab – nun aber in den vom Arzt in der Apotheke verwalteten Patientenbestand. Danach treffen Sie keine selbstständig in eigener Verantwortung zu erfüllenden Pflichten, die über Ihre dem Arzt vertraglich geschuldeten Leistungen hinausgehen. Sie sind nicht einmal länger „Eigentümer“ der Arzneimittel, sondern lediglich deren „Besitzer“. Somit agieren Sie im zweiten Schritt, dem Sichtbezug selbst, rein rechtlich als „Dienstleister“ des Arztes.

Mehr Aufwand ohne Honorar?

Dass Abgabe und Überlassen von Substitutionsarzneimitteln zwei unterschiedliche, chronologisch aufeinanderfolgende Tätigkeiten sind, spielt auch für die ordnungsgemäße Dokumentation eine Rolle – selbst wenn sich dabei manches vermischen kann und auch darf.

Gleichwohl richten sich die Nachweispflichten gemäß §13 BtMVV an unterschiedliche Adressaten: Während Sie im eigenen Namen die „Standard-Nachweisführung“ für die Abgabe zu leisten haben und hierfür mit der BtM-Gebühr „entschädigt“ werden, übernehmen Sie für das Überlassen zusätzlich die patientenindividuelle Dokumentationspflicht des Arztes. Dem trägt auch eine Arbeitshilfe der Bundesapothekerkammer (BAK) Rechnung (vgl. Service am Ende des Beitrags). Ihr zufolge werden

  • die Abgabe als Abgang aus dem Apothekenbestand in der Standard-Dokumentation und
  • der Zugang in den Patientenbestand in der patientenindividuellen Dokumentation erfasst.

Auf diese Weise können der Verbleib des Substitutionsarzneimittels lückenlos nachgewiesen und die Anforderungen des §1 Abs. 3 BtMVV erfüllt werden.

Vergütet wird die patientenindividuelle Dokumentation allerdings über die zugrundliegende, behandlungsvertragliche Leistung des Arztes – womit Sie im Regelfall keine Abrechnungsmöglichkeit für den Mehraufwand haben. Teils (z.B. in Baden-Württemberg) existieren jedoch regional gültige Vereinbarungen mit den Krankenkassen, die eine Honorierung explizit vorsehen. Gibt es in Ihrer Region keinen solchen Vertrag, bleibt Ihnen eine Vergütungsvereinbarung mit dem Arzt, den Sie ja entlasten – was Punkt 11 der BAK-Mustervereinbarung übrigens vorsieht.

Fazit

Der Sichtbezug in der Apotheke verursacht in der Praxis einigen administrativ-organisatorischen Aufwand, da für jeden Patienten die vertraglichen Voraussetzungen individuell mit dem Arzt geschaffen werden müssen. Abhängig von der Patientenkonstitution sind Sie zudem gefordert, eng mit dem Arzt zu kommunizieren. Überlegen Sie sich daher gut, ob Sie den Sichtbezug bei sich anbieten wollen – vor allem, da eine Vergütung bisher keineswegs bundesweit einheitlich vereinbart worden ist.

Service

  • Das von der Bundesapothekerkammer erstellte Muster der „Vereinbarung über den Sichtbezug“ sowie die Arbeitshilfe zur patientenbezogenen Dokumentation finden Sie auf der ABDA-Homepage unter „Opioidsubstitution“.

  • Wer sich tiefer in das Thema hineinknien will, kann das mit dem Artikel „Sichtbezug von Substitutionsarzneimitteln in der Apotheke“ von Dr. Dennis A. Effertz in Ausgabe 3/2021 von „Arzneimittel & Recht“ tun.

Dr. Dennis A. Effertz, LL.M., Apotheker und Jurist (Medizinrecht), Experte für Apotheken- und Sozialrecht, 79110 Freiburg/Breisgau, E-Mail: kontakt@dr-effertz.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2021; 46(16):14-14