Erfassen, bilanzieren, kontrollieren

Paradiesische Zukunft für "Erbsenzähler"


Prof. Dr. Reinhard Herzog

"Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß" – ja, Nichtwissen kann das Leben tatsächlich an etlichen Stellen angenehmer und sorgenfreier gestalten, auch wenn gern irgendwann doch ein dickes Ende kommt. Der Macht des Faktischen kann man nicht dauerhaft entrinnen. Doch was heißt "faktisch"? Als Faktum können wir nur das annehmen, was wir in irgendeiner Form erfassen, messen, qualifizieren und quantifizieren können. Andernfalls bleiben wir auf einer Metaebene des Hypothetischen stehen, oder verharren in Glauben und Ideologie.

Schon die bisherige Geschichte der Industrialisierung und Technisierung hat unsere Wahrnehmung enorm geschärft. Man denke nur an die Erweiterungen unseres Blickfeldes z.B. durch Mikroskope oder Teleskope, die analytischen Möglichkeiten, kleinste Mengen fast beliebiger Stoffe zu erfassen, oder die enormen Fortschritte der Sensorik. Die damit einhergehende, immer weiter anschwellende Datenflut verarbeiten immer leistungsfähigere Rechner, für den Austausch sorgt die Vernetzung.

Mit dem "Internet of Things" (IoT) werden irgendwann selbst Alltagsgegenstände eingebunden, vernetzt, abgefragt. Es ist wieder eine Frage der Sensorik und messtechnisch-analytischen Möglichkeiten, was diese "Things" dann zu vermelden haben. Dergestalt "sprechende", nachverfolgbare Alltagswaren und Wertgegenstände sind in erster Linie eine Frage der (auch preislichen) Massentauglichkeit. Diese wird, beginnend bei hochwertigen Gegenständen, immer weiter in den Massensektor vorstoßen. Bei uns ist das lückenhafte Securpharm-System (nur ein "End-to-End-System") ein kleiner Vorgeschmack.

Ein echtes "IoT"-Arzneimittel würde z.B. per Near-Field-Communication-Chip (NFC-Chip) über die gesamte Wertschöpfungs-, Logistik- und Verbrauchskette nachvollziehbar sein. Auf lange Sicht wären sogar kommunikationsfähige Arzneiformen bis in den Körper hinein denkbar, erste Prototypen gibt es bereits. Sicher, es braucht auch flächendeckende Erfassungsgeräte, um den gesamten Weg abbilden zu können. Mit den Smartphones sind diese allerdings bereits fast in Vollabdeckung vorhanden. "IoT" kann insoweit kommen. Möglicherweise werden wir eines Tages selbst zu so einem "Thing", kaum mehr trennbar ans Netz angebunden. Die Konsequenzen für das tägliche Leben sind den meisten noch nicht einmal näherungsweise bewusst.

Besondere Brisanz bekommt dies, weil wir schon länger in einer "Erbsenzähler-Gesellschaft" leben. Was wird nicht alles erfasst, bilanziert, abgefragt? Insbesondere der Staat wird immer neugieriger, gestützt auf ebenjenen technischen Fortschritt. Gemessen an dem, was bereits um die Ecke lugt, sind die heutigen (kaufmännischen) Bilanz-, Erfassungs- und Meldepflichten fast schon Petitessen. Ein Megathema der Zukunft dürften "Klimabilanzen" sein, zuerst eher grob-orientierend, dann immer ausgefeilter. Das beginnt bei der Quantifizierung des CO2-Fußabdrucks jedes einzelnen Produkts (schon das tritt eine enorme Lawine an Folgebilanzen und Datenerfassungen los), und endet bei der Nachverfolgung zu den einzelnen Verbrauchern. Ich lehne mich aus dem Fenster und prognostiziere absehbar eine verpflichtende Klimabilanz wie heute eine Steuerbilanz – mit "Klimabilanz-Buchhaltern" als neuer Berufs- und Lobbygruppe.

Die Neugier des Staates gilt weiterhin dem Vermögen der Bürger. Wie ertragreich wäre es doch, hier effektiver zugreifen zu können? Dazu muss man aber wissen, was wirklich vorhanden ist. Daran hapert es – noch. Doch arbeitet die EU bereits an Plänen zur besseren Erfassung der Privatvermögen. Am Ende könnte die Pflicht zur Erstellung einer jährlichen privaten Vermögensbilanz aller Bürger stehen, so wie Unternehmen seit jeher bilanzieren müssen. Ja, dann werden nicht mehr nur Erbsen gezählt, und das selbstverständlich gegen (Beratungs-)Gebühr. Nicht wenigen Politikern dürfte da schon heute warm ums Herz werden!

Verbinden wir das Ganze mit dem "Internet of Things", dann mag man langsam erahnen, in welche Richtung uns die Zukunft führen kann. Nur als Beispiel: der künftig "IoT"-codierte Goldbarren (Bargeld ist dann schon Geschichte)! Ein George Orwell käme aus dem Staunen nicht mehr heraus ...

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2021; 46(19):19-19