Unfreiwillig-eigener "Rollentausch"

Die Apotheke aus der Patienten-Perspektive


Karin Wahl

Apothekenteams und Inhaber sind mehrheitlich gesund. So haben sie meist noch wenige Erfahrungen, wie es Menschen ergeht, die mit einer ernsten Diagnose wie Krebs frisch vom Arzt in die Apotheke kommen und die einem auch die eigene Sterblichkeit plötzlich vor Augen führen.

Apotheken haben traditionell einen großen Mix an Patienten mit verschiedensten Anliegen, vom harmlosen Insektenstich bis zu komplexesten Erkrankungen, die die Apotheken früher nicht zu sehen bekamen, da diese Menschen nur in den Kliniken behandelt wurden. Dann waren wir eher in der Nachsorge gefordert, weil Stammkunden durch die Krankheit und den Krankenhausaufenthalt gezeichnet waren. Heute muss infolgedessen die Apotheke viel mehr wissen und leisten.

Neulich las ich in einem englischen Artikel folgenden Satz: "Every patient has a story, and every story is different!" Genau das zu erkennen, ist die Aufgabe eines Apothekenteams! Jeder einzelne Patient, der zur Türe hereinkommt, muss ganz schnell eingeschätzt und natürlich auch persönlich begrüßt werden.

Gelassen und resilient im Alltag

Apothekenmitarbeiter sollten wie alles Personal im Gesundheitswesen resilient, also gelassen und besonders stressresistent sein – und gleichzeitig doch empathisch gegenüber dem Kunden. Vor Corona wurden gerne Teamschulungen durchgeführt, die diese Eigenschaften trainieren sollten. Man wollte als Chef ein vorbildliches Team haben, zu dem die Kunden gerne kamen. Aber das war vor Corona! Die wenigsten Apothekenmitarbeiter haben je eine Ausnahmesituation wie eine Pandemie mit all ihren Einschränkungen erlebt, geschweige denn eine Flut oder ein Feuer in der Apotheke. Als Konsequenz sollte man einmal im Jahr auch solche Katastrophenfälle üben und dafür zuständige Personen mit ihren Verantwortlichkeiten festlegen samt Ersatzpersonen.

Wo hapert es?

Die Corona-Pandemie hat uns glasklar gezeigt, was wir alles hätten wissen müssen, um solchen Situationen gerecht zu werden und vor allem, dass wir insgesamt besser aufgestellt sein müssen. Angefangen bei den vielen zu kleinen Offizinen, in die jetzt nur zwei Personen gleichzeitig eintreten dürfen und wo dann die vielen anderen Patienten vor der Türe im Regen oder Schnee bei Kälte warten müssen, ohne Sitzgelegenheiten für gebrechliche, schwer kranke Menschen!

Eigene Beobachtungen zeigten, dass der einzelne Kunde in vielen Apotheken zu langsam bedient wird, weil der Druck direkt vor dem HV-Tisch durch die Beschränkung auf z.B. zwei Personen nicht wirklich wahrgenommen wird. Dabei würde ein Blick nach draußen schnell zeigen, dass es etwas gestraffter zugehen muss. Und trotzdem sollen die Kunden stets zufrieden die Apotheke verlassen. In freundlich-gelassener Art schließt das die umfassende Information und Führung des Kunden aber nicht aus, auch wenn dieser nun lieber ein kleines Schwätzchen anfangen würde. Nicht ohne Grund sind in den Corona-Zeiten die Umsätze der Online-Apotheken durch die Decke gegangen! Warum wohl? Jedes Apothekenteam sollte sich schonungslos einmal zusammensetzen und die Optimierung der Kundenbelieferung besprechen:

  • Lieferservice aktiv anbieten, nicht nur auf Nachfrage der Kunden.
  • Freundliche Zusteller engagieren, die im erneuten Krisenfall notfalls auch dreimal täglich zustellen können. Die Kosten lassen sich schnell amortisieren, wenn solche Logistikprozesse rationell und standardisiert ablaufen.
  • Zusatzumsätze sind sogar hier möglich (z.B. grundsätzlich jeder Zustellung Handzettel beilegen mit "Zuhause-Produkten" wie Hygiene-Paketen, Topseller-Artikeln, Körperpflegeprodukten etc.).
  • Rufen Sie Ihre guten Stammkunden mit Kundenkarte aktiv an, ob sie im Laufe der Woche etwas brauchen. Das kommt gut an, besonders bei bewegungseingeschränkten Patienten oder Müttern mit Kindern.
  • Sichern Sie sich flexibles Ersatzpersonal für die Erkrankungswellen im Winter (z.B. "Ehemalige", Rentner im "Unruhestand" und "Springer" auf Teilzeitbasis).
  • Nehmen Sie die aktuellen (Pandemie-, Winter-)Themen konsequent in alle Ihre Werbemedien mitsamt Schaufenster auf.

Impfen als Chance

Nachdem wir immerhin von der Regierung als "systemrelevant" betitelt wurden, sollten wir dafür kämpfen, Patienten zu impfen, wie es die Schweiz, die USA und weitere Länder schon lange mit Erfolg machen. So können die für eine Durchimpfung wichtigen, niederschwelligen Angebote gemacht werden. In den USA erklärte kürzlich ein Kollege stolz, dass sie an einem Vormittag schon 50 Patienten ohne Vorkommnisse geimpft hätten. Hierfür bräuchte es aber mehr Durchsetzungskraft und Mut seitens unserer Standesvertretung, um interessierten und geeigneten Apotheken Wege auch gegen die Bedenkenträger zu ebnen.

Bedenkenswerte Erlebnisse

Die Autorin hatte das "Vergnügen", diverse Negativerlebnisse auf der anderen Seite des HV-Tisches erleben zu dürfen. Sicher sind das nur punktuelle Eindrücke, aber lassen Sie diese doch einmal auf sich wirken:

  • Unfreundliche schnippische Bedienung durch sehr junge Mitarbeiter (ohne Namensschild und Berufsbezeichnung) mit offenkundig wenig Berufserfahrung und Kompetenz.
  • Hat man selbst einmal dieser "Zunft" mit viel Lebens- und Berufserfahrung angehört, ist man bisweilen entsetzt über die falschen Auskünfte zu Arzneimitteln. Die Bedienenden sind öfters nicht bereit, konsequent im Computer, der ja alle Informationen hinterlegt hat, nachzuschlagen.
  • Es wird eine ganze Phalanx von hochpreisigen Arzneimitteln auf dem HV-Tisch aufgetürmt, ohne eine Verpackungsmöglichkeit zu offerieren – aus falsch verstandener Ökologie? Nachbarn, die gerade zufällig auch in der Offizin stehen, machen große Augen über den Berg an Medikamenten – Vertraulichkeit Fehlanzeige! Und wenig später wird man von einem anderen Nachbarn angesprochen, ob man wirklich so krank sei. Ja, so etwas kommt beim Online-Händler nicht vor!
  • Aktive Zusatzangebote – was ist das? Steht ein solcher Kunde in der Apotheke, müsste dort eigentlich die ganze Klaviatur der Kundenbindung gespielt werden: Angebot einer Kundenkarte mit allerlei wirklich nützlichen Vorteilen, zum jeweiligen Kunden und seiner Lage passende Zugaben, ergänzende Informationsangebote usw. Vielen Mitarbeitern scheint das aber lästig und zu viel Aufwand zu sein.
  • Wenig Empathie mit sehr kranken Kunden, keine Sitzmöglichkeit, keine persönliche Ansprache. Motto: Verkauf abwickeln und "der Nächste bitte".
  • Man lässt in der nassen und kalten Jahreszeit seine Kunden vor der Apotheke Schlange stehen.
  • Oft finden sich sehr viele junge Menschen noch in Ausbildung bereits hinter dem HV-Tisch. Sprachprobleme sind an der Tagesordnung, mit dem Fachwissen (bzw. dessen Vermittlung) hapert es. Oft weiß dann der Patient besser Bescheid. Ein ausgewogener Personalmix hinsichtlich Alter und Qualifikation vermeidet solche "Schieflagen".
  • Die September-Ausgabe der "Rentner-Bravo" liegt erst Mitte Oktober stapelweise zum Mitnehmen aus. Letztlich entsteht jedoch der schlechte Eindruck, dass hier etwas verschleudert werden soll, zumal die Aktualität für den Kunden ja nicht mehr gegeben ist.
  • Apotheken sind allzu oft noch die einzigen Geschäfte, die nicht durchgängig wie alle anderen geöffnet haben. Es ist jedoch schlicht nicht mehr zeitgemäß, so "exklusive" Öffnungszeiten anzubieten. So treibt man Kunden förmlich in die Arme des Onlinehandels. Die Leute lieben es, alles in einem Aufwasch zu erledigen, wenn sie schon vor Ort einkaufen und die Mühen der Anfahrt auf sich nehmen. Merke: Irgendwer macht das Geschäft – nämlich die serviceorientierteren Apotheken, selbst wenn die vielleicht in Holland sitzen. Auch so erklärt sich manch Schließung.

Nehmen Sie sich anhand der aufgeführten, durchaus provokativen Sachverhalte die Zeit, um sich und Ihr Team gut für die kommende "Saison" vorzubereiten. Viel Erfolg!

Karin Wahl, Fachapothekerin für Offizinpharmazie, Beraterin im Gesundheitswesen, 70195 Stuttgart, E-Mail: karinruthwahl@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2021; 46(21):10-10