Demografie und medizinischer Fortschritt (Teil 1)

Goldene Apothekenzeiten dank Überalterung?


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Deutschland altert kräftig – das ist nicht neu. Da Ältere sehr viel mehr medizinische Leistungen als Jüngere brauchen, sollten an und für sich "goldene Zeiten" für den Gesundheitssektor und die Apotheken bevorstehen. Doch ganz so einfach ist es nicht.

Waren in den 1950er Jahren gesamtdeutsch gerade einmal rund 800.000 Menschen 80 und mehr Jahre alt (und eine mittlere fünfstellige Zahl 90 aufwärts), waren 2019 vor Corona etwa 5,7 Mio. Einwohner 80 und älter. "90 Plus" waren gut 820.000 Personen.

Bis zur Mitte des Jahrhunderts sind bei Fortsetzung der bisherigen Trends um die 10 Mio. Menschen ab 80 Jahren wahrscheinlich, "90 Plus" sind dann um die 2 Mio.

Erkrankungen wie Demenz oder Parkinson könnten sich in den nächsten 30 Jahren annähernd verdoppeln, und die Krebsinzidenz um 20% bis 30% zulegen. Corona als womöglich für immer schwer beherrschbare "Dauerwelle" mit allfälligen Impf- und Immunitätslücken könnte tatsächlich diese demografischen Prognosen spürbar beeinflussen. Konkret auf Zahlenebene bleibt das einstweilen zwar noch spekulativ. Das ausgesprochen steile Covid-19-Risikoprofil zu Älteren hin deutet die Problematik aber an, sollte man diese Krankheit nicht weitgehend und langfristig stabil in den Griff bekommen.

Betrachten wir nun den Kostenanstieg mit dem Alter, stehen vermeintlich alle Signale auf massives Wachstum im Gesundheitswesen. Abbildung 1 illustriert diesen Kostenanstieg mit dem Alter anhand der Ausgabenprofile der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Diese werden vom Bundesamt für soziale Sicherung (ehemals Bundesversicherungsamt) als Ausgaben je Versichertentag ausgewiesen. Damit lassen sich die Kosten je Versicherten und Jahr ermitteln.

Demografische Prognosen

Anhand der Geburtenraten sowie der Wanderungsbilanzen lässt sich die Bevölkerungsschichtung in den kommenden Jahren hochrechnen und dann mit den Kostenprofilen ausmultiplizieren. Zum einen erhalten wir so eine Vorstellung von den künftigen Einwohnerzahlen, zum anderen ergibt sich auf diese Weise auch eine Vorausschau der einzelnen Sektoren des Gesundheitswesens aus rein demografischer Sicht, ausgedrückt in den Preisen von heute.

Real werden diese Werte jedoch typischerweise seit vielen Jahren weit übertroffen. Teilweise ist das durch Preissteigerungen bedingt (die im preisregulierten Pharmabereich meist bestenfalls die Inflation ausgleichen, das Realwachstum ist somit gering oder gar negativ). Den weitaus größten Anteil steuert der medizinische Fortschritt als Haupt-Kostentreiber bei. So ist der Apothekenmarkt nach Umsatz seit 2000 im Schnitt um 3,8% jährlich gewachsen. Diesem Thema widmen wir uns später. Heute wollen wir beantworten, was es mit der Alterung auf sich hat, und ob diese bereits die in Aussicht gestellten "goldenen Zeiten" erklärt.

Apotheken-Szenarien

Den demografischen Effekt auf die Apotheken betrachten wir näher. Hierzu analysieren wir auch den Einfluss der Zuwanderungauf die Apothekenumsätze. Zutreffender reden wir vom Netto-Wanderungssaldo, also unter Berücksichtigung der Abwanderung aus verschiedensten Gründen. Immerhin kommen in den letzten Jahren um 1,0 bis 1,5 Mio. Menschen pro Jahr ins Land (Maximum 2,1 Mio. 2015), aber 1 Mio. und mehr verlassen es auch wieder. Darunter sind 200.000 bis 300.000 Deutsche, die fortziehen, im Schnitt 70% bis 80% davon kommen aber wieder zurück.

Das ergibt eine komplexe, sich von Jahr zu Jahr ändernde Wanderungsbilanz, die man in Modellen jedoch nur vereinfacht abbildet. So bewegten sich in den letzten 30 Jahren die Netto-Wanderungssalden zwischen nahe Null (Mitte der 2000er-Jahre) und 1,14 Mio. (Maximum 2015). Wir betrachten die Varianten ...

  • A: keine Netto-Zuwanderung,
  • B: 300.000 (Basis-Szenario) und
  • C: 600.000 Menschen

zusätzlich pro Jahr. Es soll sich überwiegend um Jüngere handeln.

Weitere Einflussfaktoren sind die Geburtenrate und die Entwicklung der Sterberaten (laut "Sterbetafeln" des Statistischen Bundesamtes, www.destatis.de). Erstere determinieren den Bevölkerungsaufbau "von unten", letztere das Abschmelzen der Bevölkerung mit wachsendem Lebensalter und somit die Lebenserwartung. Hier ist man ebenfalls auf realistische Modellannahmen angewiesen. Wir schreiben die aktuelle Geburtenrate von etwa 1,55 Kindern je Frau fort.

Neben Umsätzen zählen die Verordnungen sowie die damit verbundenen Tagesdosen. Während jüngere Männer 2 bis 3 GKV-Verordnungen pro Jahr erhalten (jüngere Frauen 3 bis 4), steigert sich das auf knapp 25 Verordnungen (bei Männern in der Altersklasse 85 bis 90) und maximal rund 28 Verordnungen bei den Frauen gleichen Alters. Dennoch sind die Kosten für die älteren Frauen sogar etwas niedriger als bei den Männern. Sie erhalten also mehr, aber günstigere Verordnungen. Noch etwas steiler entwickeln sich die definierten Tagesdosen (Defined Daily Doses, DDD) – von 100 bis 200 p.a. in jungen Jahren bis in die Gegend von 1.800 jenseits der 80.

Abbildung 2 zeigt die zentralen Ergebnisse der Demografieanalyse im Hinblick auf die in den nächsten Jahrzehnten diesbezüglich zu erwartenden Apothekenumsätze. Diese wurden in Preisen von heute (= 100%) indexiert dargestellt – allein demografisch bedingt.

Ernüchternde Ergebnisse

Die Überraschung: Je nach Szenario sind bestenfalls 10% bis 15% Umsatzwachstum bis zur Jahrhundertmitte zu erwarten. Das sind deutlich weniger als 1% Plus pro Jahr. Bei geringer Zuwanderung fallen diese Werte sogar wieder, ohne Zuwanderung im Zuge der dann deutlich schrumpfenden Bevölkerung sogar ganz erheblich. Lediglich bei starker Zuwanderung (hier netto 600.000 pro Jahr dauerhaft angenommen) ergibt sich ein bevölkerungsbedingter, stabiler Aufwärtstrend. Mehr Menschen bedeuten eben schlicht mehr Markt. Die Bevölkerung würde dann aber auch auf knapp über 100 Mio. in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts wachsen, während sie im mäßigen Zuwanderungsszenario (+300.000 jährlich) in etwa konstant bliebe.

Etwas stärker als die Umsätze reagieren die Tagesdosen (DDD) bzw. Packungen auf den demografischen Effekt. Über die Jahre summiert sich das trotzdem nur zu einigen Prozentpunkten mehr. Das jährliche Wachstum verharrt hier ebenfalls unter 1% pro Jahr.

Erklärungsansätze

Wie lässt sich erklären, dass die Um- und Absätze um die Jahrhundertmitte sogar in den Rückwärtsgang schalten? Ein ganz wichtiger Punkt: Die "geburtenstarken Jahrgänge" der 1960er Jahre sterben dann aus. Selbst die Zahl der Älteren sinkt dann in der Folge, da die nachfolgenden Jahrgänge viel schwächer ausfallen.

Waren gesamtdeutsch von 1950 bis 1970 stets über 1 Mio. Geburten zu verzeichnen (und in den 1960er Jahren 1,2 bis gut 1,3 Mio.), bei 900.000 bis 950.000 Sterbefällen (wie in den letzten Jahren auch wieder), sanken diese Geburten in den 2000er Jahren zeitweise auf unter 700.000 ab. In jüngerer Zeit stabilisieren sich die Zahlen auf einem Niveau von 750.000 bis 800.000 Neugeborenen pro Jahr, bei weiterhin um die 950.000 Gestorbenen (ohne Corona-Effekte).

Die Umsätze der Arztpraxen und Kliniken entwickeln sich übrigens ganz ähnlich; der reine Demografieeffekt auf die Praxisumsätze ist sogar noch etwas geringer als auf die Pharmaerlöse, bei den Krankenhäusern etwas höher. Hier wie da erklärt der demografische Wandel nur ein Wachstum von mehr oder weniger unter 1% pro Jahr.

All business is local

Lokal vor Ort kann sich die Demografie hingegen spürbar anders auswirken. Attraktive Regionen wachsen mit 1% oder gar über 2% jährlich. Andere, meist ländliche, verlieren merklich an Einwohnern und überaltern dabei überproportional. Demzufolge schlagen die demografischen Auswirkungen auf den Gesundheitsmarkt in die eine wie die andere Richtung etwas stärker aus, wobei Land- und Stadtflucht keine unumkehrbaren Entwicklungen sind und langfristig ebenfalls einem Wandel der Präferenzen unterliegen.

Welche Altersklasse bringt heute welche Umsätze?

Schauen wir abschließend noch auf den Status quo (Abbildung 3).

Heute hat die Altersklasse 60 bis unter 80 mit Abstand die größte Umsatzbedeutung in der Apotheke. Die Hochbetagten machen mit 14% (bei knapp 7% Bevölkerungsanteil) dagegen gar nicht einmal so viel aus. Nach Tagesdosen holen die Älteren etwas stärker auf: 46% (60 bis unter 80) bzw. 20% ("80 Plus"). Die Apothekenumsätze von Männern und Frauen sind übrigens in der Summe aller Altersklassen ähnlich, Frauen erfüllen jedoch bekanntermaßen gerne die Funktion als Einkäufer.

Tatsächlich beobachten wir seit Jahrzehnten ein weit stärkeres Marktwachstum, als es die Demografie erwarten lässt – vor allem nach Umsatz. Auf Ebene der Verbrauchsdaten (Tagesdosen, Packungen) stimmen die Vorhersagen besser mit dem Demografie-Effekt überein. Als Ursache war bereits der medizinische Fortschritt benannt. Dieser ist der wirtschaftliche Gamechanger, während die Alterung der Gesellschaft als Garant für eine dynamische Marktentwicklung sehr gern überschätzt wird. Diese trägt nämlich nur einen Bruchteil zum beobachteten Kostenwachstum bei.

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2021; 46(21):4-4