Demografie und medizinischer Fortschritt (Teil 2)

Wie viel Innovation möchten wir uns leisten?


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Konnten wir letzthin noch einen recht überschaubaren Kostenbeitrag des demografischen Wandels konstatieren, so kommt mit den sogenannten "Fortschrittskosten" eine ganz andere Dynamik in den Markt. Eine zu große, irgendwann unbezahlbare Dynamik?

Weniger als 1% pro Jahr und Kopf beträgt die demografische Komponente auf Umsatz und Absatz (siehe AWA 21/2021). Real sehen wir seit Jahren Umsatzzuwächse jenseits der 3%, meist um 4% oder etwas darüber, während die Anzahl insbesondere der Rx-Packungen seit Jahren fast stagniert oder nur im Promillebereich wächst.

Die Ursache ist bekannt: Immer kostspieligere Innovationen, die in den Apotheken überwiegend als "Hochpreiser" über 1.200 € Herstellerpreis ankommen. Preist man die Innovationskomponente in die Apothekenumsätze ein, resultieren ganz andere Entwicklungen, gegen welche der demografische Anteil völlig verblasst (Abbildung 1).

Ausgangspunkt ist wieder ein mittleres Lebenserwartungs-Szenario, heutige Geburtenraten und eine Netto-Zuwanderung von 300.000 Menschen jährlich, was die Bevölkerung annähernd stabil hält.

Über die Jahre wirkt der Zinseszinseffekt, und es macht einen großen Unterschied, ob 3%, 4% oder 5% Kostenzuwachs pro Jahr herrschen. Diese Raten werden in den Modellrechnungen mit langfristig angenommenen, 2% Inflationsrate auf Realwerte in heutigen Preisen zurückgerechnet. Daraus erwachsen trotzdem beachtliche Real-Umsatzzuwächse. Bei 4% Kostenwachstum pro Jahr und Kopf, die heutige Größenordnung, würden die Apothekenumsätze binnen eines Jahrzehnts inflationsbereinigt um 27% zunehmen, bis zur Jahrhundertmitte sich etwa verdoppeln. In nominalen Umsatzwerten könnten 2030 um die 85 Mrd. € erreicht werden (2020: 57 Mrd. €).

Erträge hinken hinterher

Die künftige Rohertragsentwicklung wird da fast zwangsläufig hinter dem (nominalen) Umsatzwachstum zurückbleiben – andernfalls wären die Aussichten wirklich traumhaft. Sinkende Margen auf wachsende Umsätze werden uns also einstweilen weiter begleiten, was illustriert, dass in erster Linie der Rohertrag die Basis aller Auswertungen und Kennzahlen auf der Betriebsebene sein sollte. Nun reden wir aber von der volkswirtschaftlichen bzw. gesellschaftspolitischen (Kosten-)Ebene.

Die Umsätze des einen sind die Ausgaben eines anderen. Und so stellt sich die Frage der Finanzierbarkeit, zumal es in den anderen Gesundheitssektoren nicht viel anders aussieht. Hochleistungs- und Hochkostentherapien belasten auch die Kliniken immer mehr – durch Personal- und Materialeinsatz, von teuren Medikamenten bis hin zu kostspieliger High-Tech.

Das geht solange gut, wie das Wirtschaftswachstum mit den steigenden Ausgaben Schritt hält. Hier ist auf die Vergleichsbasis zu achten. Stellt man die Kosten, wie in Euro und Cent bezahlt, der Wirtschaftsleistung gegenüber, so muss man die nominalen Eurobeträge (und die nominalen Wachstumsraten, nicht die publizierten, inflationsbereinigten) dagegen setzen. Und da ist die Wirtschaft (vor Corona) nominal gern um gut 3% bis 4% gewachsen. Der Anteil der Gesundheitskosten an der Wirtschaftsleistung blieb damit halbwegs gleich.

Gamechanger

Gerade bei den Spezialpharmazeutika und neuen Therapien gibt es Entwicklungen mit einem Potenzial, jedes Budget zu sprengen. Beispielhaft sei die Onkologie herausgegriffen. Etwa 500.000 Patienten erkranken hierzulande jährlich neu an Krebs. Diese Zahl wird weiter steigen. Bisher verlängern die teils exorbitant teuren Therapien die Überlebenszeit im Durchschnitt nur um Monate, allenfalls wenige Jahre.

Der Anteil jener, bei welchen die hochspezifischen Therapeutika aber besser anschlagen und die Überlebenszeit teils beträchtlich steigern, wächst jedoch kontinuierlich. Meist, von einigen Gentherapien abgesehen, handelt es sich aber um klassische "Stand-by-Therapien", die über längere Zeit fortgesetzt werden müssen. Krebs wird deshalb schon als "chronische Erkrankung" bezeichnet – für die Pharmabranche eine wirtschaftliche Traumvorstellung, die bezahlt sein will.

Ein Modell (Abbildung 2) illustriert die Herausforderungen, wenn die Verfahren einem immer größeren Teil der Krebspatienten zugutekommen und die Lebenserwartung wirklich stark steigen sollte. Das Maximum ist mit 12 zusätzlichen Jahren angenommen, weil die meisten Krebspatienten per se schon betagter sind. Die Jahrestherapiekosten seien mit 50.000 € angenommen, aus heutiger und erst recht künftiger Sicht nicht allzu hoch.

Im Extremfall wären, falls jeder Patient derart behandelt und 12 zusätzliche Jahre gewinnen würde, 300 Milliarden Euro jährlich für die Krebsbehandlung aufzuwenden, mehr als alle GKV-Ausgaben zusammen! Das ist natürlich völlig illusorisch. Bei einem Kostenwachstum von zurzeit um 10% bis 15% pro Jahr [1] liegen obige Werte in weiter Ferne. Und dennoch zeigt dieses Modell, dass unser heutiger Hochkostenansatz auf Dauer nicht mehr trägt, wenn wirklich große Patientenzahlen aufkommen und nicht mehr nur seltene Spezialfälle. Schließlich gibt es nicht nur Krebs.

Orphan Drugs und Co.

Eine ähnliche Rechnung kann man für die kostspieligen Orphan Drugs aufmachen. Würde nur ein Viertel der hierzulande schätzungsweise gut 3 Millionen von einer "Orphan Disease" Betroffenen zu Jahrestherapiekosten von gerne 100.000 € und mehr behandelt, ergäbe das eine Zusatzbelastung im hohen zwei- oder niedrig dreistelligen Milliardenbereich. Orphan Drugs – man denke an die medizinisch segensreichen, aber extrem teuren Enzymersatztherapien – sind der wichtigste Teil einer lebenslangen Dauertherapie, die sich auf über 200.000 € jährlich belaufen kann. Lassen wir den Blick weiterschweifen zu den Autoimmunerkrankungen mit ihren komplexen therapeutischen Herausforderungen oder zum Megathema Demenz: Aus künftigen innovativen Therapien drohen Fortschrittskostenfallen zu werden.

Preis der Komplexität und Spezialisierung

Die steigende Behandlungskomplexität und Spezialisierung vereiteln im Gesundheitswesen Kostendegressionseffekte, wie wir sie aus anderen Wirtschaftsbereichen (wie z.B. der Elektronik oder Prozessindustrie) kennen. Immer kleinere Patientenkollektive, welche adäquat mit innovativen Präparaten behandelt werden, implizieren stark steigende Pro-Kopf-Kosten. Bremsende Effekte ergeben sich zwar u.a. durch Patentabläufe. Das Einsparpotenzial erschöpft sich aber gerade bei den aufwendig zu produzierenden "Biologicals" oft in 20% bis 30% vom Originalpreis, eher selten 50% und mehr. Absolut betrachtet ergeben sich daraus beträchtliche Einsparpotenziale – weltweit sollen 2025 allein die Biogenerika um die 100 Mrd. US-$ einsparen –, unter dem Strich bleiben diese Therapien aber kostspielig. Prognosen des IQVIA Institute [2] taxieren den Rx-Anteil teurer Spezialtherapeutika 2025 nach Wert auf knapp 60% im Mittel der zehn führenden Industrienationen (heute etwa 50%, 2010 noch 24%).

Wenige benötigen sehr viel

Dieser Hochkostensektor ist auch ursächlich für die immer stärkere Spaltung des Pharmamarktes mit einer wertmäßigen Konzentrierung auf immer kleinere Patientenanteile. So machen Apotheken nach Analysen der BARMER Ersatzkasse in ihrem neuen Arzneimittelreport 2021 [3] immerhin 10% ihres Verordnungsumsatzes mit nur 0,05% ihrer Rezeptkunden (das sind im Schnitt gerade einmal zwei Personen!). 30% des Verschreibungsumsatzes werden mit 0,5% (nicht einmal 20 Patienten) erwirtschaftet, und 1,7% (60 Personen) stehen für die obere Hälfte. Betrachtet man nur die Fertigarzneimittel, sind es 2,5% bzw. rund 90 Kunden – die teuren Spezialrezepturen erklären diese Differenz.

Lifetime costs

Ein anderer Betrachtungsansatz geht vom einzelnen Menschen über seine Lebensjahre hinweg aus. Ein Leben als "Kassenpatient" bedeutet heute im statistischen Schnitt rund 300.000 € Leistungsausgaben in derzeitigen Preisen von der Wiege bis zur Bahre, Privatpatienten liegen noch eine Ecke höher (vor allem bei den Arztkosten). Individuell können indes tatsächlich hohe Millionenbeträge für den einen oder anderen Spezialfall zusammenkommen (z.B. bei seltenen Erkrankungen wie Morbus Fabry oder Morbus Gaucher).

Mit erschreckender 40%iger bis 50%iger Wahrscheinlichkeit wird ein hiesiger Einwohner irgendwann in seinem Leben (meist in höherem Lebensalter) von einer Krebsdiagnose eingeholt. Würde man nun für jeden Krebspatienten im Schnitt 100.000 € aufwenden (für manche mehr, für andere weniger, wobei die Summe perspektivisch womöglich eher niedrig angesetzt ist), stünden statistisch 40.000 € bis 50.000 € allein dafür auf der "Lebensuhr". Das erscheint sogar noch überschaubar. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 20% bis 30% droht aber irgendwann zum Lebensende hin schwere Demenz. Künftige innovative Antidementiva mögen ebenfalls für einige Lebensjahre mit 100.000 € anzusetzen sein – so stünden die nächsten 20.000 € bis 30.000 € auf der Lebenskostensumme. Das kann man nun mit den so vielen anderen Krankheiten anhand ihrer Inzidenz bzw. Prävalenz fortsetzen, und wir sehen, dass wir uns rasch und stark von den heutigen Summen entfernen.

Offenkundig stehen Gesellschaft, Politik sowie die Therapeuten samt Apotheken langfristig vor beträchtlichen Herausforderungen, wenn die Hochleistungsmedizin immer mehr zum Standard für beinahe jeden werden soll. Und tatsächlich werden ja die meisten von uns irgendwann von einer bedrohlichen Erkrankung eingeholt.

Lösungsansätze

Die obige "Lebenskostensumme" skizziert bereits eine mögliche Lösung – nämlich die Betrachtung ganzer "Lebenspfade" und nicht mehr nur einzelner, konsekutiver Erkrankungen (Abbildung 3).

Je nach genetischer Determinierung sowie eigenem Verhalten und Umfeld ergeben sich verschiedenste Risikopfade. Diese früh zu erkennen, könnte nicht nur viel Leid ersparen, sondern auch enorme Kosten. Grundlage wäre eine "Patientenakte XXL", in welcher zusätzlich zu den heutigen Daten u.a. das komplette Genom (samt pharmakogenomischen Aspekten, bald für wenige Euro machbar) in softwaremäßig auswertbarer Form abgebildet ist. Weiterhin wären die routinemäßigen Checks auf Biomarker aller Art hinterlegt ("predictive analytics", u.a. immer mehr in Form von Selbsttests und per Smartphone als Gesundheits-Drehscheibe), zudem Verhalten, Ernährungsbesonderheiten und sonstige Risikofaktoren. Das setzt ganz andere, "bioinformatisch geprägte" Datenbankstrukturen voraus – und zugegebenermaßen auch ein verändertes Patientenbewusstsein.

Wir würden nicht mehr nur über eine Verwaltungsakte reden, welche die Vergangenheit abbildet, sondern eine, welche Zukunftsperspektiven, mögliche Risiken und Lösungswege aufzeigt – bevor die Betreffenden ernstlich krank werden! Schon länger kann man sich für einige hundert Euro Genanalysen erstellen lassen, welche beachtlich viele Risikofaktoren aufdecken. Diese Methoden der Frühdiagnostik schreiten rasch voran.

Die Vorzeichen so bedeutsamer Erkrankungen wie Krebs oder Demenz lange vor ihrer klinischen Manifestation erkennen und frühzeitig intervenieren – das dürfte ein hochspannender Weg aus der drohenden "Fortschrittskostenfalle" heutiger Prägung sein.

Ungeachtet dessen werden wir auch etliche Fortschritte bei "echten" Heilungen und nicht nur symptomatischen Dauertherapien erzielen (u.a. gentherapeutisch oder durch künstliche Gewebe). Gemessen an den Kosten einer Dauertherapie dürften selbst hohe Einmalkosten wirtschaftlich sein – aber leider an der Apotheke vorbeigehen.

Wo bleiben die Apotheken?

Perspektivisch werden sich die Apotheken solchen Entwicklungen stellen und sich fragen müssen, welche Rolle sie z.B. bei einem prädiktiven "Lebenspfad-Modell" und den damit verbundenen Testverfahren einnehmen können und wollen, einschließlich des immer wichtigeren Datenmanagements. Das Fortschrittskostenproblem erscheint so auch ohne harte Leistungseinschränkungen lösbar. Chancen sich neu auftuender Märkte muss man aber frühzeitig erkennen – und sie ergreifen!

Exkurs: "Hochpreiser"

Für die Apotheken sind Hochkostenpräparate nicht unbedingt lebensnotwendig, im Gegenteil, das Ertrags-/Risikoverhältnis ist alles andere als beruhigend. 0,6 % machen die "Hochpreiser" (Herstellerpreis über 1.200 €) an den Rx-Packungen aus, bringen etwa 8 % des Rx-Rohertrages und 5 % des Gesamtertrages ein (einschließlich der überschaubaren Einkaufsvorteile), blähen aber die Bilanzen im Bundesdurchschnitt mit 35 % bis 40 % Rx-Umsatzanteil zu Verkaufspreisen auf. Sparmaßnahmen in diesem Bereich, die vor allem an den Industriepreisen ansetzen müssen, wären für die Apotheken halbwegs verschmerzbar. Sie leben ganz überwiegend von Massen-Generika.

Literatur

[1] IQVIA Institute for human data science: Global Oncology Trends 2021 – Outlook to 2025 (Juni 2021)
[2] IQVIA Institute for human data science: Global Medicine Spending and Usage Trends 2021 – Outlook to 2025 (April 2021)
[3] BARMER Institut für Gesundheitssystemforschung (bifg): Arzneimittelreport 2021, unter www.barmer.de

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2021; 46(22):4-4