Nichts gelernt in der großen Politik?

Chaos-Winter reloaded


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Während Sequels in der Filmbranche eine bewährte Methode sind, würden wir im Alltagsleben doch auf eine Wiederholung des Streifens "Corona: Pleiten, Pech und Pannen" gern verzichten. Genau dieser Wiederaufguss bahnt sich in diesem Winter an, womöglich härter denn je.

Unsere Leser konnten bereits im Sommer (AWA 16/2021) ahnen, dass es wieder kritisch werden würde. Und das, obwohl rund 90% der am höchsten gefährdeten Altersgruppe über 60 Jahren (die 95% der Covid-19-Toten stellen) voll geimpft oder durch Vorinfektion geschützt sind. Mit abnehmendem Alter sinkt jedoch die Impfquote. Am Beispiel Englands – hier werden aussagekräftigere Analysen [1] publiziert – lässt sich das gut illustrieren (Abbildung 1).

Bei uns ist die Situation ganz ähnlich, unsere Impfungen starteten nur etwas später, und wir haben zudem deutlich weniger Genesene. Nun überlagern sich unter anderem zwei Effekte:

  • Wir haben zu viele Ungeimpfte, v.a. mittleren/jüngeren Alters.
  • Bei den Älteren, oft weniger immunkompetent, reduziert sich der Impfschutz von Monat zu Monat überproportional und, korrespondierend zur schnellen Durchimpfung Anfang 2021, in großer absoluter Zahl.

"Boosterimpfungen" sollen das nun kompensieren; doch wird die Drittimpfung tatsächlich die wünschenswerte Langfrist-Immunisierung bringen? Zweifel sind angebracht, wir spielen wohl weiterhin auf Zeit. Die epidemiologische Lage bleibt absehbar ernst. Die Impfung ist somit eine zwar notwendige, aber eben keine hinreichende Maßnahme der Pandemiebekämpfung. Das findet noch nicht genügend Eingang in den Maßnahmenkatalog.

So stehen Sie auch in der Apotheke vor der heiklen Aufgabe, Ihre Patienten trotz dieser schwierigen Gemengelage aufzuklären. Tabelle 1 gibt Ihnen Formulierungsanregungen auf häufige Fragen – sofern nicht gar die Beziehungsebene erfolgversprechender ist ("wir sind auch alle …").

Testzentren reloaded

Gestern Auslaufmodell, nun das erwartete Comeback: Testen, Testen, Testen! Vieles zu diesem Thema lesen Sie in den AWA-Ausgaben Nr. 6/2021, 7/2021 und 8/2021 sowie 13/2021. Excel-Rechenblätter runden das Angebot ab. Stellen Sie sich aber realistisch darauf ein, dass die Vergütung unter kritischer Beobachtung steht, weil die Corona-Kosten in der nun vierten Welle langsam aus dem Ruder laufen. Die beste Prophylaxe: Kostendisziplin und Auslastung! Letztere lässt sich durch flexible Testzeiten steigern. Ein Beispiel: Solange Feiern unter "2GPlus" möglich bleiben, sammeln sich gerne noch zu später Abendstunde lange Schlangen vor entsprechenden Teststellen.

Aufs Impfen vorbereiten

Eine neue Regierung könnte angesichts der momentanen Notlage doch noch so manchen gordischen Knoten durchschlagen und die Impfung in der Apotheke auch gegen die zahlreichen Bedenkenträger durchsetzen – zumindest für Covid-19 und Influenza als sinnvolle Ergänzung.

Nachdem jetzt die Ärzte 28 € für einen Covid-19-Shot erhalten (für Influenza aber unter 10 €), ist die Messlatte insoweit gelegt. Apotheken wird man um des Friedens willen maximal mit diesem Betrag honorieren – brutto. Nicht unwahrscheinlich ist ein "Respektabstand", was auf vielleicht 20 € bis 25 € je Corona-Impfung hinausliefe. Für die Grippeimpfungen wurden unsererseits einst einmal 15 € netto gefordert, das würde also passen.

Überlegen Sie, ob und wie Sie Impfungen in Ihrer Apotheke räumlich und personell darstellen könnten. Für einen ersten Eindruck gibt es im Internet zahlreiche gute, oft angelsächsische Trainingsanleitungen [2].

Distanz-Pharmazie

Nicht unerwartet schlägt wieder die Stunde der Kontaktreduktionen. Damit stellt sich erneut die Aufgabe: möglichst viel auf Distanz erledigen und trotzdem persönliche Nähe bieten. Spätestens jetzt gilt es, telepharmazeutische Angebote, Webinare, vielleicht auch ein "Unterhaltungsprogramm" im Web auszurollen. Wer früher einen Weihnachtsnachmittag im Seniorenheim abgehalten hat, kann mit der Heimleitung überlegen, ein Programm via Großbildschirm zu gestalten.

Langzeitfolgen

Das absehbar hohe Infektionsgeschehen wird die Zahl der Long-Covid-Patienten in die Höhe treiben. Auch Geimpfte sind davor nicht völlig gefeit. So werden schwerer Erkrankte dauerhaft das Alltagsgeschehen bestimmen. Im Vergleich zur Influenza geht man heute davon aus, dass mindestens doppelt so viele Patienten unter Langzeitfolgen leiden, die meisten maximal wenige Monate. Hier schlägt wieder das Gesetz der großen Zahl zu. Wenn dies nur etwa 0,5% bis 1% der Bevölkerung pro Jahr sind, kommen da statistisch je Apotheke bis zu 50 Patienten zusammen.

Für die Apotheken bedeutet das Herausforderungen und Chancen. So werden wir trotz Impfung dauerhaft viele Patienten mit dieser neuen "Erkältung im XXL-Format" haben, die zwar nicht krankenhauspflichtig sind, aber dennoch eine intensive (auch pharmazeutische) Betreuung benötigen. Hier gilt es, rasch Leitlinien für diese Begleitung bzw. strukturierte OTC-Empfehlungen zu entwickeln.

Wie wäre es zudem mit einer Long-Covid-Selbsthilfegruppe – eine ausgezeichnete Möglichkeit zur Profilierung und Kundenbindung! Hier können Sie auch soziale Aspekte aufgreifen, denn etliche Patienten sind mit massiven wirtschaftlichen Folgen konfrontiert. Spendenaktionen können Sie "veredeln", indem Sie Ihre Kunden zum Verzicht auf Einkaufsvorteile (Zugabe, Rabatt) aufrufen und dann zur Bekundung Ihrer Ernsthaftigkeit selbst ebenfalls einen gewissen Betrag obenauf legen, um die Spendenkasse aufzustocken.

Literatur

[1] COVID-19 vaccine surveillance report (week 46), UK Health Security Agency (November 2021), www.gov.uk/government/publications/covid-19-vaccine-weekly-surveillance-reports

[2] Trainingsseiten zur Impfung, z. B.: https://portal.e-lfh.org.uk oder https://openwho.org

Prof. Dr. Reinhard Herzog Apotheker 72076 Tübingen E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2021; 46(23):4-4