Impfen – die never ending story

Piksen oder Piesacken?


Prof. Dr. Reinhard Herzog

"Ein kleiner Piks, ein großer Schritt für die Gesundheit des Geimpften und des Volkes" – so kann man das Nutzen-Risiko-Verhältnis der meisten Impfungen auf den Punkt bringen. Zudem sprechen regelhaft gesundheitsökonomische Überlegungen dafür. Da stellt sich eher die Frage, wie man die Impfungen an die Frau oder den Mann bekommt. Dass dies gerade im selbstbestimmten Erwachsenenalter nicht so einfach ist (bei den strukturiert-stringent angegangenen Kinderimpfungen klappt es weit besser), muss ebenfalls nüchtern konstatiert werden. Die Gründe sind vielfältig. Ein nicht unwichtiger ist die Erreichbarkeitsschwelle, wie wir gerade eindrucksvoll wieder erleben. In einer Zeit, in welcher Arzttermine nicht immer leicht zu bekommen sind, liegt diese Schwelle für viele Zeitgenossen (zu) hoch – insbesondere für jene, die nicht sowieso Dauergast in den Praxen sind, oder die nicht einmal einen regelmäßig konsultierten Hausarzt haben. Und so manche Arztpraxis tut das ihre dazu, weil man "voll" ist – an Terminen und an Patienten respektive "Scheinen". Das relativiert nebenbei so manchen Einwurf der Ärzteseite.

Was liegt da näher, als geeignete Impfungen auch ohne langes Termingeschacher "um die Ecke" in der Apotheke des Vertrauens anzubieten? Dauerhaft flächendeckend etabliert auf hohem Qualitätsniveau? Stehen dem wirklich Risikoerwägungen entgegen, die sich tatsächlich unterhalb der allgemeinen Lebensrisiken abspielen? Wenn der Weg zur Arztpraxis viel risikoreicher ist als das ernste Zwischenfallrisiko der Impfung, wird es bizarr. Und so fragt sich der aufmerksame Beobachter, was der x-te Modellversuch an neuen Erkenntnissen bringen soll, zumal international reichlich (positive!) Erfahrungen vorliegen. Können deutsche Apotheken so viel weniger?

Vor allem Tun liegt der Blick auf die Zahlen. Die "Klassiker" der Vorsorgeimpfungen, meist im Kindesalter verabreicht und damit auf eine Jahrgangsstärke von 700.000 bis 800.000 limitiert, sind bei den (Kinder-)Ärzten in besten Händen, ähnlich wie die späteren HPV-Impfungen. Spezielle Reise- und individuelle Risikogruppen-Impfungen sind ebenfalls optimal in Ärztehand. Die Apotheke kommt bei Impfungen ins Spiel, die einfach und risikoarm verabreichbar sind, die zudem einen hohen, auch gesamtgesellschaftlichen Nutzen erbringen (durch Reduktion von hohen Krankheitslasten und Ansteckungsraten) – und wo es an der Durchimpfungsrate mangelt. Da steht die Influenza ganz oben – und eben Covid-19.

Die Honorarfrage sollte sich lösen lassen. Sicher können Apotheken nicht viel mehr erwarten als die Ärzte. Während die Grippeimpfung für die Ärzte mit rund 7 € bis 9 € zusätzlich vergütet wird, waren es bei Covid-19 immerhin 20 €, künftig gar 28 €. Modellversuche in Apotheken liegen bei 15 € brutto. Da sollten Kompromisse möglich sein. Beim Impfen geht es auch nicht um ein wirklich tragfähiges wirtschaftliches Standbein (dazu sind selbst etliche Millionen "Shots" im Jahr dann doch zu unbedeutend, bei andererseits 1,8 Milliarden abgesetzten Packungen), aber um viel Imagegewinn, zusätzliche Kundenfrequenz und eben einen hohen gesellschaftlichen Benefit. Ist der erst einmal etabliert, sichert das die Vor-Ort-Apotheke weiter ab. Die wirtschaftliche Gefahr droht eher von unserer eigenen Neigung zur Überbürokratisierung und förmlichen Suche nach Restrisiken.

Und dann wären da noch die gefürchteten Retourkutschen der Ärzte und deren Griff in die Kiste der Grausamkeiten: Forderungen nach Dispensierrecht (ein running gag), das Streitigmachen des uns so heiligen Medikationsmanagements oder die Verbrüderung mit dem Versand (schon ernster). Ja, die Angst ist real, dass die Ärzte uns so massiv piesacken, dass wir das durch Piksen nie wieder aufholen können.

Das sind jedoch Schau- und Scheingefechte. Redete man mehr miteinander als über- oder gegeneinander, sollte vieles in beiderseitigem Interesse lösbar sein. Niemand macht dem anderen seine Existenz streitig. Somit ist der Impfstart in Apotheken überfällig. Er setzt aber Flexibilität und Einigkeit unsererseits voraus, und eine gewisse "Hands-on-Mentalität". Wer etwas will, ersinnt Wege, wer etwas nicht will, findet Gründe oder vermeintlich untragbare Risiken.

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2021; 46(23):19-19