Im Digitalisierungsrausch

Der Unterschied zwischen Wollen und Können


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Über 60 Mal findet sich das Wort Digitalisierung im "Ampel"-Koalitionsvertrag, beginnend auf Seite 4 und letztmalig auf Seite 172 (von 177). Es dürfte das themenspezifisch häufigste Wort sein. Es zieht sich durch alle Bereiche, vom Autoverkehr über Gesundheit bis hin zur Verwaltung – der "Theriak der Moderne", eine Art Universalheilmittel oder digitale Wundertüte für all unsere Probleme. Ähnlich wie der Theriak in Antike und Mittelalter vermeintlich viel und am Ende fast nichts vermochte, kann bei dieser gigantischen Erwartungshaltung an die Digitalisierung nur das Scheitern an den selbstgelegten Messlatten und die Enttäuschung stehen. Enttäuschung bedeutet "das Ende der Täuschung", und täuschen lassen sich vorrangig Menschen, die sich zumindest gerne Illusionen hingeben.

Unbestritten ist, dass die IT und Digitalisierung ein atemberaubendes Durchdringungspotenzial in alle Bereiche der Gesellschaft hinein bieten, und so enorme Chancen mitsamt eben Risiken. Doch sind wir dem überhaupt gewachsen? Wollen ist das eine, Können das andere. Jeder, der mit wachen Augen den hierzulande ablaufenden Digitalisierungsprozess erleben oder durchleiden darf, dürfte seine (berechtigten) Zweifel hegen. Auf der Ebene einzelner Anwender und Institutionen mag es mehr schlecht als recht funktionieren, doch denken Sie nur an den enormen IT-Wartungsaufwand, die ständige Bedrohung durch Schadprogramme, allzu augenfällige Software- und Datenschutz-Unzulänglichkeiten u.a.m. In infrastruktureller Dimension ist unsere Gesellschaft und zersplitterte IT-Landschaft faktisch noch gar nicht digitalisierungsfähig. Vier Punkte seien hervorgehoben:

1. Nur ein regelrechter "Update-Terror" (man muss es leider so hart benennen) hält unsere fragilen Software-Konstrukte irgendwie am Laufen. Kein Tag, an welchem nicht Sicherheitslücken geschlossen werden müssen, vornedran in vulnerablen Betriebssystemen, die aufgrund ihrer Architektur für infrastrukturelle Hochsicherheits-Aufgaben gar nicht geeignet sind. Eine grundlegende Neuausrichtung läge auf der Hand, womöglich auch dahingehend, elementare Rechnerfunktionen statt "soft" eben auch mal wieder "hard" werden zu lassen ("Solid State Operating Systems", sprich als von außen nicht mehr korrumpierbare Speicherchips). Der Trend geht jedoch in die andere Richtung, selbst Autos und Alltagsgeräte immer mehr zu vernetzen und gar "over the air" beeinflussbar zu machen – hochgefährlich!

2. Die eindeutige biometrische Identifizierung jedes Nutzers bzw. Zugangs zu einem netzwerkfähigen System würde nicht nur Angriffe erschweren, sondern auch dem heutigen Identifikations- und Passwort-Irrsinn ein Ende setzen.

3. Wünschenswert wäre ein von der heutigen Netzstruktur unabhängiges, hoch (ausfall-)gesichertes "Infrastruktur-Backbone". Die heutige Knotenstruktur, vermischt und verteilt auf zig Akteure und Interessen, ist zwar insoweit auf eine gewisse Art chaotisch-stabil, gleichwohl hochproblematisch.

4. Angriffe auf die IT ("Hacker") gilt es künftig als das einzustufen, was sie im Grundsatz sind: Terrorakte! Entsprechend robust ist dagegen vorzugehen.

Ein derart konzeptionelles Vorgehen ist bei uns nicht erkennbar. Länder wie China haben das alles längst erkannt und "härten" ihre IT-Infrastruktur, nicht zuletzt, weil ein Cyber-Krieg heute wahrscheinlicher ist als ein klassischer Krieg. Wir dagegen segeln auf der "Welle Chaos" und verlieren uns in kleinteiligen Insellösungen, zig "Apps" und Beteiligten sowie gefährlichen Abhängigkeiten von allerlei ausländischen Konzernen.

So bleibt bei uns nur der Weg das Ziel. Ein Weg, der von vielen Oasen und reichen Früchten gesäumt ist – für Komplexitätsprofiteure, Geschäftemacher und Experten, die Antworten auf Fragen geben, die niemand freiwillig stellt. Die "neue Modernität" und die damit einhergehenden Formen der Wertschöpfung (bzw. des Schröpfens der Bürger) lassen grüßen. Der Mensch bzw. "Anwender" wird zum Objekt der Begierde, entmündigt zum digitalen Sklaven. Noch viel schlimmer: Stümperei kann uns nolens volens in ein digitales Armageddon mit infrastrukturellen Blackouts führen, deren Dimensionen noch kaum überschaubar sind. Auf in spannende (Digital-)Zeiten!

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Liebe Leserin, lieber Leser, dieser Artikel ist nur für Abonnenten des AWA zugänglich.

Sie haben noch keine Zugangsdaten, sind aber AWA-Abonnent?

Registrieren Sie sich jetzt:
Nach erfolgreicher Registrierung können Sie sich mit Ihrer E-Mail Adresse und Ihrem gewählten Passwort anmelden.

Jetzt registrieren