Personalnot

Allen wohl und niemandem weh


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Ist es nicht bizarr? Wir befinden uns in der größten Krise der Nachkriegsgeschichte – und alle stöhnen über Personalmangel! Bisher war es doch stets so: Wirtschaftskrisen schlugen auf den Arbeitsmarkt durch, Arbeitslosigkeit sorgte für gedämpften Konsum und zurückhaltende Lohnforderungen, die Preise blieben im Rahmen. Arbeitnehmer waren bemüht, ihren Job zu behalten, während Unternehmer um ihre Kunden kämpften. Kaum jemand wäre da auf die Idee gekommen, seine Arbeit wegen "Burnout" oder mancher Nickeligkeiten selbst zu kündigen. Im Radio liefen Schlager wie: "Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt!"

Das alles hat sich vollkommen gedreht. Heute läuft klagendes Befindlichkeits-Gedudel. Die Gesellschaft scheint nur noch aus personifizierten Lebenskrisen auf zwei Beinen zu bestehen. In vielen Städten gibt es mehr Psychologen als Bäcker, Metzger oder Wirte. Auch wenn an dieser Stelle eine Portion Zuspitzung und Ironie nicht zu verkennen ist: Im heutigen Potpourri der Befindlichkeiten ist der Job oft nicht mehr als eine fakultative Beschäftigungsmöglichkeit, angesiedelt zwischen psychosozialer Auffangstation, Zeitvertreib und Tätigkeit nach Lust und Laune. Der ehemalige "Lohn" (in wie vielen Branchen wurde einst "Akkord" gearbeitet …) ist vielfach zur Anwesenheitsgebühr, gar zum Schmerzensgeld mutiert. Beim erstbesten Unwohlsein oder einem ermahnend-fordernden Wort wird hingeworfen. Schließlich wartet der neue Job an der nächsten Ecke. Diejenigen, die noch täglich den Unterschied zwischen Arbeit und Leistung für nicht selten beschämende Entlohnung mit Leben erfüllen, werden gern als "prekär beschäftigt" etikettiert.

Am anderen Ende der Skala stehen ebenfalls geradezu erstaunliche Posten zur (gern erfolglosen) Besetzung an, ob die Landarztpraxis mit über 200.000 € Beinahe-Garantie-Jahreseinkommen, die gutgehende Landapotheke, die einst heiß begehrte Position in der Spitzenkanzlei bzw. Top-Unternehmensberatung oder auch die Filialleiterstellung, nicht selten mit ökonomisch attraktiven Übernahmeperspektiven. Tja, ohne "Work-Life-Balance" und viele Zugeständnisse – die noch in den 2000er Jahren kein ernsthafter Interessent zu äußern gewagt hätte – bekommt man kaum mehr jemanden hinter dem Ofen hervor. Es sind die talentierten Migranten, die hier mehr und mehr die Lücken füllen, so wie sie es im unteren Lohnsegment seit jeher tun. Sofern nicht schon vom Sozialstaat eingelullt, sind sie eben noch hungriger.

Und so kommen wir zur Ursachenanalyse, wie es so weit kommen konnte, was zunehmend ein ernster betrieblicher Belastungsfaktor und Preistreiber mit allen Konsequenzen wird.

Die naheliegenden demografischen Effekte sind noch wenig einschlägig; das Ausscheiden der Babyboomer steht erst bevor. Schon bedeutsamer sind die Einflüsse des (Sozial-)Staates und seiner die wahre Lage kaschierenden Subventions- und Förderpolitik. Die enormen Kosten der Corona-Krise wurden zulasten künftiger Steuerzahler in die Zukunft verlagert. Leute werden so künstlich in Arbeit gehalten und der Arbeitsmarkt ausgetrocknet. Orchestriert wird dies durch eine (Niedrigzins-)Finanzpolitik, die eher einer Insolvenzverschleppung gleicht und "Zombie-Unternehmen" samt Mitarbeitern im Spiel hält. Der Staat selbst mitsamt seiner Bürokratieprofiteure setzt zudem wieder (personellen) Speck an, was wertvolle Arbeitskraft bindet. An der Basis kultivieren wir erfolgreich das Mimosenhafte. Empfindsamkeiten rangieren vor Leistung, die in ihrer Bedeutung gar nicht mehr erfasst wird, und das beginnt bereits in der Ausbildung. Vergessen wir zudem nicht die Generation "Erben", die es gar nicht mehr nötig hat, sich "krummzumachen".

So betrachtet, hat eine offensive Einwanderungspolitik durchaus ihr Gutes – sofern man die Richtigen anwirbt. Das wird schwierig in einer Gesellschaft, deren tiefgreifende Probleme allenthalben spürbar und deren Nebenwirkungen in Form immer unverschämterer Abgaben und Kostenbelastungen auf jedem Lohnzettel zu sehen sind. Da locken andere Regionen der Welt mehr. Änderungen sind erst in Sicht, wenn das Pendel umschlägt und das Gespenst der Arbeitslosigkeit wieder Mäßigung erzwingt. Ökonomische Realitäten lassen sich eben nicht dauerhaft verleugnen.

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

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