Hauptsache irgendwie "grün"

Muskelkraft statt Intelligenz?


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Unsere Hauptstadt, für die einen hippes Start-up-Mekka, für andere das "Venezuela Deutschlands", mag unsere Zukunft vorskizzieren. Zahlreich sprießende Start-ups übersetzen intelligente, kapitalintensive Vorarbeit Anderer in schlichte MS (= "Menschenstärken") per Tretantrieb auf die Straße. Ein Lieferdienst nach dem anderen schießt aus dem Boden, und die "App-Mania" nimmt groteske Züge an. Auch sonst finden wir vor allem "Krümelverwerter" am Ende einer langen Wertschöpfungskette, während die fetten Gewinne andernorts in der Welt anfallen, wo echte High-Tech-Firmen sechsstellige Gewinne pro Mitarbeiter erlösen. Das erreichen unsere "Lieferhelden", "Gorillas" und Co. oft nicht einmal als Umsatz.

Dafür sind sie ökologisch unterwegs. Während die Geschundenen der Entwicklungsländer danach trachten, Lastenräder, Rikschas und Co. durch Motorkraft zu ersetzen, schaffen wir sie voller Begeisterung an. Wahrscheinlich verbietet im Moment (noch) die Angst vor der Macht der Bilder, dass man sich ab einer gewissen Position mit der Sänfte durch Berlin tragen lässt. Aber immerhin dürfen künftig für zwölf Euro Mindeststundenlohn die Muskeln spielen. Wir tun was für unser Prekariat, welches bei unserem Wirtschaftskurs kräftig anwachsen dürfte.

Dabei käme es unserer alternden Gesellschaft weit mehr zupass, ließe man die grauen Zellen für ein Vielfaches arbeiten, dergleichen das (noch reichlich vorhandene) Kapital rentabler wirtschaften und die Technik segensreich und hocheffizient wirken. Die Weichen werden gerade in andere Richtungen gestellt. Die Bildungskatastrophe und Versündigung an unserem Nachwuchs nimmt kein Ende, unser Kapital droht inflationär auszuzehren, und für High-Tech wird der Boden in Europa immer nährstoffärmer.

Wieder dürften sich Deutschland und die EU als die Region der verpassten Chancen herausschälen, wie so oft schon bei Schlüsseltechnologien und -entwicklungen. Eine durchaus wirtschaftlich chancenreiche, nachhaltige "Next-Generation-Economy" ist bereits auf dem besten Weg, zwischen grün-idealistischen Traumvorstellungen und puritanischen Verbots- und Verzichtsideologien zerrieben zu werden. Bisherige Stärken liberaler Märkte werden konsequent negiert. So wird das nichts mit einem europäischen Elon Musk, Steve Jobs oder Jack Ma; Firmen wie Apple, Microsoft oder Tencent betrachten wir weiter aus der Ferne auf den Kurszetteln fremder Länder.

Verpasste Chancen charakterisieren auch unseren Apothekenmarkt. Liegt die Zukunft nun tatsächlich in immer mehr "Kunden-Convenience", Lieferung 24/7 bis an die Haustür oder sonst wohin? In die Pedale treten (lassen), wenn des Nachts die Tempotaschentücher ausgehen? Oder liegen unsere wertschöpfenden Potenziale nicht woanders? Mit einem ausschließenden Entweder – oder gilt es stets vorsichtig zu sein. Vor lauter "sprechender Pharmazie", Servicegedanken und Nachhaltigkeit dürfen wir aber nicht die nüchternen Aufwand-Nutzen-Relationen und den nachweisbaren gesellschaftlichen Mehrwert aus den Augen verlieren. "Kundenunterhaltung" und die Befriedigung von Wohlstandsbequemlichkeit mag uns wertvolle Sympathiepunkte einbringen, aber wird uns die Allgemeinheit das künftig noch im wünschenswerten Umfang bezahlen?

"Intelligenz statt Muskelkraft" wird hoffentlich die Zukunft der Apotheke vorrangig bestimmen. Mit Leistungen, auf die sowohl der Einzelne als auch die Allgemeinheit nicht verzichten mag, weil sie nachweisbar gesunde Lebensjahre schenken. Die grandiosen, sich weiter steigernden Möglichkeiten der Technik und Diagnostik (man denke an heutige Testmöglichkeiten, die Pharmakogenomik, anspruchsvolle Datenanalysen etc.) stoßen zusammen mit dem pandemiebedingt gestiegenen Gesundheitsbewusstsein die Tür dazu ganz weit auf.

Doch ist der Wert einer Leistung individuell höchst verschieden. Daher sollten wir so ehrlich sein, dass für einen persönlichen Nutzen zunehmend der Einzelne in der finanziellen Verantwortung steht. An mehr Selbstzahlerleistungen führt kaum ein Weg vorbei, selbst wenn die Politik immer noch Gegenteiliges suggeriert. Und mehr "Cash in die Täsch" schafft zudem das notwendige Gegengewicht zum übermächtigen Druck der Politik und Krankenkassen.

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Liebe Leserin, lieber Leser, dieser Artikel ist nur für Abonnenten des AWA zugänglich.

Sie haben noch keine Zugangsdaten, sind aber AWA-Abonnent?

Registrieren Sie sich jetzt:
Nach erfolgreicher Registrierung können Sie sich mit Ihrer E-Mail Adresse und Ihrem gewählten Passwort anmelden.

Jetzt registrieren