Wenn es an Führungsstärke mangelt

Von kleinen Problemen bis zur Katastrophe


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Der bekannte schwäbische Textilunternehmer Wolfgang Grupp äußerte schon vor längerer Zeit einmal: "Probleme sind nicht zum Diskutieren, sondern zum Lösen da. Wer zu mir mit einer Frage kommt, geht mit einer Antwort! Wer ein großes Problem hat, ist für mich generell ein Versager, denn jedes Problem war einmal klein und hätte er es als kleines gelöst, hätte er kein großes!" Gerade den letzten Satz sollten sich insbesondere Politiker groß ausdrucken und auf ihren Schreibtisch stellen, aber auch viele andere, die sich Führungskräfte nennen, dürfen sich angesprochen fühlen.

Wie schnell sich Eskalationsspiralen drehen, erleben wir gerade in atemberaubendem Tempo mit völlig unkalkulierbarem Ausgang. Kürzlich galt so etwas noch als Filmvorlage für Hollywood-Regisseure. Alles scheint möglich. Und das im Zeitalter der globalen Vernetzung, wirtschaftlichen Verflechtung und grenzüberschreitenden Kommunikation sowie einem im Großen und Ganzen noch nie dagewesenen Wohlstand. Gleichzeitig war die Welt kaum je wirkmächtiger hochgerüstet, egal ob im Westen oder Osten. Das geht gerade völlig unter, denn wenn es an etwas nicht mangelt, dann ist es die materielle Ausstattung. Alle entscheidenden Handlungsoptionen bestehen hier wie da. Und doch scheint einiges ins Rutschen gekommen zu sein. Aus kleinen wurden immer größere Probleme. Erosionsprozesse in den westlichen Industrienationen sind unverkennbar. Das führt zu Machtverschiebungen, die schon vom Ringen um die Ressourcen der Welt gekennzeichnet sind. Umweltveränderungen werfen ihre Schatten voraus. Corona hat diese angeknackste Statik noch labiler gemacht.

Solche Verschiebungen rufen vermeintlich kühl kalkulierende Strategen auf den Plan, um für sich Schwächen auszunutzen. Doch allzu schnell gehen solche Abstauber-Kalkulationen vorne und hinten nicht auf, erst recht, wenn das eigene Blatt in Verkennung wichtiger Tatsachen maßlos überreizt wird, Lebenslügen platzen, und es dann lichterloh brennt. Und wie das so ist: Streiten sich zwei, freut sich der Dritte, womöglich aber auch ein Vierter oder Fünfter. Demzufolge ist oft gar nicht so klar ersichtlich, wer Brandstifter, Feuerwehr, Zuschauer oder künftiger Plünderer und Profiteur aus mehr oder weniger großer Distanz ist. Je größer ein Konflikt, umso größer die Summen, die im wahrsten Sinne des Wortes im Feuer stehen. Damit steigt die Zahl der direkt oder indirekt Beteiligten und Interessenlagen, die Lage wird immer komplexer. Zu schön ist jetzt die Flucht in eine holzschnittartige Schwarz-weiß-Logik. Das vereinfacht die Lösung aber nicht, im Gegenteil.

Treffen dann Ideologien, Dogmen und Rechthaberei auf ein solch bereits entglittenes Geschehen, ist der Weg zur Eskalation geebnet. "Ich hatte Recht" können sich allzu viele Opfer im Alltagsgeschehen, beispielsweise im Verkehr, stolz auf ihren Grabstein meißeln lassen. Da trifft es nur Einzelne. Wer meint, alles risikominimiert und klein-klein auf die Ewigkeit festschreiben zu müssen, scheitert gern mal an der Macht des Faktischen – insbesondere, wenn Regeln und Vereinbarungen sich von der Lebensrealität entfernt haben. Und Lebensrealitäten verändern sich, zudem regional unterschiedlich. Dies früh wahrzunehmen und Strukturen anzupassen, vermeidet spätere brachiale Brüche.

Es gibt nun aber Situationen, die den Ordnungsrahmen des gesitteten Alltags vorübergehend übersteigen. Selbst bzw. gerade dann sind abwägende Vernunft, Mut, Stärke, hohe soziale Intelligenz und die Größe, den berühmten gordischen Knoten zu durchschlagen, gefragt. Die Erfahrung hat bisher gezeigt, dass sich Vernunft und Verstand durchsetzen, wenn man nur tief genug in den Abgrund blickt. Am Ende müssen wir auf der Welt miteinander klarkommen, auch wenn es mühsam ist und mitnichten immer den eigenen Vorstellungen folgt. Nicht selten stehen einzelne, exponierte Personen dem im Weg, und es ist eine besondere Herausforderung, dann das Schachbrett der Macht strategisch klug zu bespielen.

Für jeden für uns bleibt die eingangs formulierte Erkenntnis: Lassen Sie anfangs noch kleine Probleme nicht groß werden! Sie finden in Ihrem Alltag und Umfeld zig Beispiele. Dort haben Sie es selbst in der Hand, ob Sie tatsächlich erst in den Abgrund schauen möchten oder bereits vorher eine Ausfahrt auf dem erkennbaren Weg zur Absturzkante nehmen.

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

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