Möglichst bis an die Couch

Im Convenience- und Lieferwahn


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Der "Lieferwahn" hat die industrialisierte Welt schon länger erfasst. Die Straßen sind voll von Lieferfahrzeugen teils ulkigster Art. Da autonomes Fahren einstweilen eher Vision denn ernstzunehmende Variante ist, müssen absehbar immer mehr Menschen aus Fleisch und Blut ran – gerne ökologisch auf zwei- oder dreirädrigen, oft muskelbetriebenen Vehikeln, und das bei Wind und Wetter zu meist miserablen Arbeitsbedingungen. Dass hier ein neues Prekariat ("working poor") förmlich herangezüchtet wird, bleibt gern außen vor. Nebenbei bräuchten wir diese Arbeitskapazitäten von kräftigen Leuten eher auf dem Bau oder auch in der Pflege. Nun erfasst diese Welle die deutschen Apotheken mit voller Wucht, seit allerlei Anbieter mit putzigsten Namen das Geld an den Apothekenbäumen wachsen sehen.

Knapp 1 Milliarde Kundenbesuche finden dort deutschlandweit jährlich statt, gut 50.000 je Apotheke im Schnitt. Da mag manch Startup träumen, davon einige oder gar einige zehn Millionen Lieferfahrten deutschlandweit für sich abzugreifen. Schwieriger zu beziffern sind die zurückgelegten Kilometerleistungen. Zwei Drittel der Bevölkerung leben in städtischen Regionen (Einwohnerzahl über 10.000). Hier dürfte die Entfernung zur nächsten Apotheke im Durchschnitt bei maximal einem Kilometer liegen. Zudem finden in diesen Regionen die meisten Apothekenbesuche statt, weil hier die Ärztedichte am höchsten ist.

Beim ländlichen Rest der Bevölkerung dürften im Schnitt einige wenige Kilometer je Besuch und einfache Wegstrecke anfallen. Grob geschätzt reden wir über vielleicht 3 oder 4 Milliarden Personenkilometer zum Besuch von Apotheken, anteilig gemindert um diejenigen Wege, die ja sowieso anfallen, weil vorher der Arzt oder hinterher der Lebensmittler aufgesucht werden. Diese Strecken teilen sich jetzt auf die benutzten Verkehrsmittel auf, wobei der evolutionsbiologisch ausentwickelte Zweizylinder mit Kniezündung ökologisch korrekt immer noch einen beachtlich hohen Anteil daran ausmachen wird. Ob fremde Lieferdienste zu weniger oder nicht gar zu mehr Kilometern führen, ist da gar nicht so einfach zu ermessen.

Es ist BWL-Grundwissen, dass gerade bei solchen Massendienstleistungen eine hohe Auslastung alles ist, hier verbunden mit niedrigen Kilometerleistungen je Lieferkunde. So verwundert es nicht, dass hochverdichtete Metropolregionen die Kristallisationspunkte der vielen "Lieferhelden" stellen. Doch selbst hier sind die reinen operativen Selbstkosten kaum nennenswert unter 2 € je Lieferkunde zu drücken (allenfalls in Innenstadtzonen), und da sind Marketing, die ganzen Overhead-Kosten und erst recht ein Gewinn noch gar nicht enthalten. Müssen erst einmal etliche Kilometer pro Kunde zurückgelegt werden (oft per Pkw und nicht mehr per E-Bike), dann sind wir ganz schnell bei 5 € und deutlich mehr. Da stellt sich die Frage, wer das zusätzlich bezahlen soll, zumal die meisten Apotheken eigene Lieferstrukturen unterhalten. Lässt man nun Boten abseits des Apotheken-Stammpersonals explizit zu, wäre auch über "Nachbarschaftsmodelle" nachzudenken – nicht in der einzelnen Apotheke angestellte, aber bekannte Personen aus dem Umfeld, Schüler, fitte Kunden etc. übernehmen für ein überschaubares Entgelt und von der Apothekerschaft gemeinschaftlich vor Ort organisiert (!) die typischen Botengänge.

Der aktuelle Zeitgeist entwickelt sich gerade in eine andere Richtung. Mangel und Schlange stehen haben bereits in der Corona-Pandemie fröhliche Urständ gefeiert und sind auf dem besten Weg, im Zuge der geopolitischen Verwerfungen zu einem Normalzustand zu werden. Damit fängt der frühe (und mobile!) Vogel den Wurm, während der Couchpotato im wahrsten Sinne des Wortes das Nachsehen hat.

Krisen haben insoweit etwas Gutes, korrigieren sie doch die ärgsten Auswüchse der Wohlstandsverwahrlosung. Und zu jenen muss man Dinge wie "Same-hour-delivery", von den seltenen Notfällen abgesehen, schlichtweg zählen. Auch wenn der liberal eingestellte Autor seine häufigen Zweifel an allzu strikter Regulierung anmeldet – hier wäre es tatsächlich im Sinne der Sache, sehr gründlich nachzudenken. Denn am Ende werden sonst Ressourcen in Taschen umverteilt, wo sie gerade im Gesundheitswesen nicht hingehören. Oft werden sogar nur steuerliche Verluste und Umweltschäden zulasten aller generiert.

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Liebe Leserin, lieber Leser, dieser Artikel ist nur für Abonnenten des AWA zugänglich.

Sie haben noch keine Zugangsdaten, sind aber AWA-Abonnent?

Registrieren Sie sich jetzt:
Nach erfolgreicher Registrierung können Sie sich mit Ihrer E-Mail Adresse und Ihrem gewählten Passwort anmelden.

Jetzt registrieren