Außer Rand und Band?

Im Würgegriff der teuren billigen Rohstoffe


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Teuer und billig verhalten sich wie heiß und kalt oder groß und klein. Wie kann es dann teure billige Produkte geben? Was widersprüchlich erscheint, löst sich bei näherer Betrachtung rasch auf. So erscheinen viele Rohstoffe – vorneweg Energieträger, etliche Lebensmittel-Grundstoffe, Dünger oder manche Metalle – aktuell als (sehr) teuer. Und doch sind sie gerade nur relativ teuer geworden, denn im Grunde waren sie lange Zeit billig, unter Betrachtung von Wertschöpfungs- und ökologischen Wirkungsketten viel zu billig.

Entfaltet nun die Psychologie in einem hochvernetzten, optimierten Wirtschaftsgefüge ohne große Materialreserven bzw. Vorräte ihre Wirkung, sind temporäre Verwerfungen programmiert. Da können geringe Störungen massive Auswirkungen quer über den Erdball zeitigen, wir balancieren insoweit immer an der Absturzkante. Die wirkmächtigen medialen Verstärker, erstaunlich eindimensional tönend, tun das Übrige dazu.

Damit etwas vorangeht, brauchen wir Energie. Hierzulande waren das 2021 rund 12.300 Petajoule (~3.400 Milliarden Kilowattstunden KWh) an Primärenergie über alle Industriesegmente und Haushalte hinweg. Ein Cent je KWh schlägt also mit 34 Mrd. Euro (rund 1% der Wirtschaftsleistung!) volkswirtschaftlich ein. Das illustriert, neben dem viel billigeren, aber noch unverzichtbareren Wasser, die enorme Bedeutung des „Rohstoffs“ Energie, wie auch immer materialisiert. Das liefert bereits Stoff für kriegerische Auseinandersetzungen und kann sich künftig weiter zuspitzen.

Schauen wir ins tägliche Leben. Ein Brötchen, mit 50 Gramm nur aus Mehl angenommen, enthält selbst bei einem hohen Kilopreis von 1,00 €, wie zurzeit, für überschaubare 5 Cent Mehl. Was bezahlen Sie in der Bäckerei? In einer Baumwollhose, 0,5 bis 1 Kilogramm schwer, macht die Baumwolle bei „normalen“ Preisen um 1,50 € je kg weniger als ebenjenen Betrag aus; aktuell stecken, bei 3 €/kg, für 1,50 € bis 3,00 € Baumwolle in der Hose. Im Handel kommen dann bisweilen sogar zwei Nullen dran.

Wie sieht es im Pharmabereich aus? Hier sind meist die Wirkstoffpreise der größte Einzelposten in der Herstellung. Wobei Wirkstoffkosten bei innovativen Präparaten einen weiten Bewertungsspielraum haben, je nachdem, was alles in die Kostenrechnung einbezogen wird. Aber bleiben wir auf dem Boden. 100 Stück Ibuprofen-Tabletten zu je 800 mg enthalten 80 Gramm Wirkstoff, die bei einem Kilopreis von rund 15 € somit 1,20 € ausmachen. Der Listen-Herstellerpreis ApU liegt etwas über 6 €, nach Rabattverträgen gern auch bei der Hälfte oder noch niedriger. Da tut der Wirkstoffpreis schon weh, und es ist kein Wunder, dass man international nach den günstigsten Bezugsquellen sucht. Die Fertigungskosten spielen in solchen Fällen sogar eine geringere Rolle, sodass es nicht so viel ausmacht, ob die Herstellung in Europa oder in Asien erfolgt. Nur ein Beispiel, gewiss, aber es gibt gerade bei Generika viele andere, in der Endaussage ähnlich gelagerte Fälle.

Ziemlich groteske Relationen finden wir im (Luxus-)Kosmetiksegment. Die exorbitanten Kilopreise (Grundpreisangabe!) täuschen darüber hinweg, dass die Rohstoffe der eigentlichen Zubereitungen sich regelhaft nur im (höheren) Centbereich je Packung bewegen; das teuerste in der Herstellung ist oft die attraktive Verpackung. Am Endpreis machen, neben Händlermarge und Mehrwertsteuer, gern die Firmenvertriebs- und Marketingaufwendungen den größten Kostenanteil aus.

Was lernen wir daraus? In vielen Alltagsbereichen machen die Rohstoffkosten immer noch einen sehr geringen Teil aus, insbesondere im Konsumsektor, aber auch bei vielen technischen Geräten. Dank gerne praktizierter Zuschlagskalkulation – beginnend in der herstellenden Firma über den Großhandel bis hin zum Detailhandel und am Ende dem Staat – werden aus einem Euro gern 10 € an der Ladenkasse, teils noch erheblich mehr.

Das, was zwischen Rohstoff und Kundenpreis liegt, macht aber einen großen Teil unserer Wirtschaft aus. Bestenfalls findet auf dem Weg eine Veredelung und Steigerung des Nutzens statt, oftmals geht es nur darum, das Produkt an den Mann bzw. die Frau zu bringen. So betrachtet leben wir immer noch in der paradiesischen 1. Welt – aber wie lange noch?

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

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