Chance oder Vertreibung aus dem Paradies?

Die (Nicht-)Zukunft der Vollkaskogesellschaft


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Fast 32 Millionen Kfz-Vollkasko-Policen zählt man hierzulande, 27 Mio. Kranken-Zusatzversicherungen, 31 Mio. Haushalte haben eine Hausratversicherung, fast jeder zweite Haushalt ist rechtsschutz-, gut 40% sind zusätzlich unfallversichert und noch jeder Vierte hat eine private „BU“ bei möglicher Berufsunfähigkeit (nach www.gdv.de). Eine halbe Million Beschäftigte stehen bei privaten Versicherungsunternehmen in Lohn und Brot bzw. fast 200.000 davon verdingen sich als selbstständige Vermittler. Sie spielen um die 300 Milliarden Euro an Beiträgen ein und verwalten (ohne Pensionskassen) 1,8 Billionen € Kapitalanlagen. Die gesetzlichen Sozialversicherungen beschäftigen noch einmal rund 270.000 Menschen. Hier werden nicht zuletzt pandemiebedingt gut 800 Mrd. € bewegt, in normalen Zeiten etwas unter 700 Mrd. €. Bei diesen Summen kann einem schwindelig werden. Allein in unseren gesetzlichen Sozialversicherungen steckt mehr als das Doppelte dessen, was ein quirliges Land wie Vietnam mit hundert Millionen Einwohnern an Wirtschaftsleistung hat.

Aber es passt zu uns. Umfragen des Autors, selbst bei jüngeren Studierenden der Apothekenbetriebswirtschaft, zeigen, dass man für eine „Luxus-Vollkaskoabsicherung“ lieber noch höhere Beiträge als ohnehin schon akzeptieren würde. Ein Monatseinkommen als Selbstbeteiligung, für Auto oder Urlaub ohne Wimpernzucken aufgewandt, bei dafür erheblich sinkenden Beiträgen, findet nur eine kleine Minderheit erstrebenswert.

Der paternalistisch-fürsorgende Staat greift das gerne auf, erschließt dies doch Gestaltungsmacht über enorme Summen und damit über Arbeitsplätze, Gesellschaftsstrukturen, Ordnungsrahmen und manch Disziplinierungsmaßnahmen, wie die Pandemie gelehrt hat. Aktuell macht der Staat in Energie (und mal wieder in Militär). Und sind wir ehrlich: Die Vorteile der Vollkasko- und Erstattungsgesellschaft im Vergleich zum „echten“ Kampf um Kunden und privat zu bezahlende Produktangebote liegen auch für die Anbieter auf der Hand. Man muss nur seine Angeln geschickt im großen Teich der Kassen auslegen. So dehnen sich die fremdbestimmten Geschäftsmodelle immer weiter aus, mit dem Öko-Sektor via Subventions- und Förderdschungel vorneweg. Die Vollkaskogesellschaft strebt ihrem ultimativen Höhepunkt entgegen. Es winkt das Paradies auf Erden für all diejenigen, die schon immer wussten, wie andere optimal gesellschaftsverträglich zu leben haben (nicht ohne zu verschweigen, dass das massive eigene Vorteile inkludiert, wenn man auf der Seite der Profiteure steht). Am Ende steht die Taschengeld-Gesellschaft, die dem Bürger nur noch Krumen zur eigenen Verfügung lässt.

Vollkasko- und eine immer empfindsamere Anspruchsgesellschaft gehen Hand in Hand. Lebensrisiken und Eigenverantwortung werden vermeintlich wegversichert. Zu wenige verinnerlichen, dass auch eine Versicherung eine einmal chronisch ramponierte Gesundheit nicht mehr wiederherstellen kann. Und der Recht Habende kann sich das dann gern auf seinen Grabstein meißeln lassen, Rechtsschutz hin oder her. Dass es anders geht, zeigt die Kfz-Versicherung: Schadensfreiheitsrabatte und Rückstufungen entfalten dort ihre Wirkung.

Wäre das nicht etwas für das Gesundheitswesen? So reizvoll das klingt, „Schuld“ am Gesundheitszustand ist weitaus schwieriger zu definieren als an Autounfällen. Gerade viele extrem teure Krankheiten sind nicht oder kaum verhaltensabhängig. Die Hochkostenmedizin ist aber unser Hauptproblem. 1% der teuersten Patienten binden 40% der Ausgaben bei inzwischen rund 40.000 € pro Kopf allein für Arzneimittel. Die teuersten 0,1% erfordern an die 150.000 € pro Kopf und stehen für jeden siebten ausgegebenen Arzneimittel-Euro. Ein fiskalisch spürbarer Kostenbeitrag lässt sich hier kaum sozialverträglich einfordern. Erfolgversprechender scheint es da, die ausufernden Kosten der Hochleistungsmedizin in den Griff bekommen.

Nichtsdestotrotz gilt es, neue Verhaltensimpulse zu setzen, will man das Anspruchsdenken nicht ausufern lassen. Ein Anfang wären kräftige Beitragsrückerstattungen bei „Schadensfreiheit“, bevor „Lernen durch Leiden“ greift, und zudem ein größerer Katalog an Selbstzahlerleistungen. Der Weg zur kostenwirksamen Eigenverantwortung ist zäh und dornenreich!

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

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