Der andere Blick in die Zukunft

Deindustrialisierung – ja bitte!


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Seid Ihr jetzt von allen guten Geistern verlassen? So mögen manche angesichts der provokativen Überschrift denken. Was wäre ein Deutschland ohne (oder mit jedenfalls nicht mehr hierzulande produzierenden) Industrie-Ikonen wie BASF, BMW, Daimler, Thyssen oder VW? Was wird aus den Mittelstands-Hidden-Champions, die energieintensiv und nebenbei auch sonst mit international hohen Kosten belastet im Lande produzieren?

Tatsächlich steht unsere Industrie schon lange vor einer Zeitenwende. Energieverknappung und -verteuerung haben bereits vor Jahren im Zuge des "Green Deal" politisch gewollt begonnen. Man schaue auf die Entwicklung der europäischen CO2-Zertifikatspreise, die dann in die Energiepreise eingeflossen sind. Daraufhin wurden europaweit Energiekapazitäten, vor allem Kohle, vom Markt genommen. Der wirtschaftliche Corona-Einbruch hat das etwas kaschiert, der Ukraine-Krieg spitzt es jetzt massiv zu. Aber bei Licht betrachtet lagen die energieintensiven Branchen schon länger auf der wirtschaftlichen Palliativstation. Mit Sonne und Wind bekommt man, ohne Backup- und Speicherkapazitäten, welche im nötigen Umfang in weiter Ferne liegen, keine dauerstabile Energieversorgung für Hochverbraucher hin. Es ist zudem bizarr, in fernen sonnenreichen, gern trockenen Regionen mit hohen Umwandlungsverlusten Wasserstoff herzustellen (jedes Kilogramm H2 benötigt ein Vielfaches an Reinstwasser), diesen aufwendig zu verdichten und hierher zu transportieren, um dann in Fabriken genutzt zu werden, die sowieso zu den teuersten der Welt zählen. Daran glaubt doch kein halbwegs denkender Mensch! Die Wiedergeburt zumindest der Fertigungsstätten wird direkt dort erfolgen, wo es billige Energie gibt.

Natürlich könnte man das anders aufzäumen. Wir könnten weiter fossile Energien (u.a. eigenes Gas und Kohle) verfeuern, das CO2 konsequent an der Quelle, sprich im Kraftwerk, abscheiden und danach einlagern. Wir könnten uns mehr um Biokraftstoffe kümmern. Die Nuklearstrategie könnten wir überdenken, auch wenn man sich davon allein schon aus Zeit- und Investitionskostengründen nicht zu viel versprechen sollte. Ja, wir könnten …

Oder wir gestalten die Deindustrialisierung wenigstens klug. Dazu werfen wir einen Blick auf die Wertschöpfung. Eine Firma Apple generiert um 400.000 Dollar Gewinn pro Mitarbeiter und Jahr, viele hiesige Unternehmen von Rang und Namen schaffen das nicht mal als Umsatz. Sechsstellige Pro-Kopf-Gewinne erzielen ebenfalls High-Tech-Firmen wie Microsoft, aber auch etliche Betriebe aus der Pharma- und Life-Science-Branche. Die meisten unserer Industrie-Ikonen hierzulande kommen gerade mal auf überschaubar fünfstellige Werte, wenn überhaupt. Wir könnten also sehr wohl deindustrialisieren, wenn wir Muskelkraft, das Mantra "Arbeit, Arbeit, Arbeit" und renditeschwache Altindustrien durch Intelligenz, Kreativität und Erfindergeist ersetzen. Angesichts der winkenden Wertschöpfung und des damit verbundenen Einnahmepotenzials der Staats- und Sozialkassen könnten wir uns die Maßnahmen zur Abfederung unvermeidlicher Jobverluste locker leisten. Klimaneutralität wird so auch realistischer.

Für unsere Life-Science-Branche kann ein solcher Paradigmenwechsel ein Geschenk des Himmels sein. Deutschland bzw. Europa als neue Apotheke der Welt muss keine Utopie bleiben. Diese künftige "Apotheke" umfasst dabei mitnichten nur Pharmazeutika. Anspruchsvolle Medizintechnik, Diagnostik, IT und Datenmanagement bis hin zum "Menschen als biometrisches Datenmodell" – all das gehört dazu. Die EU und speziell Deutschland sind grundlagenmäßig nicht so schlecht aufgestellt, müssten aber ihr Potenzial rasch ausbauen und dürften sich nicht in immer neuen Bürokratien und Regularien (abschreckendes Beispiel: EU-Medizinprodukteverordnung MDR) ergehen. Sonst werden diese Geschäfte der Zukunft woanders gemacht – USA und Asien vorneweg.

Deindustrialisierung? Alte Strukturen – ja, bitte im Sinne "kreativer Zerstörung", überleitend in neue Industrien, die sich ressourcenschonend an höchster Wertschöpfung ausrichten. Intelligenz statt Tonnage und Blech! In den Schoß bekommt man das allerdings nicht gelegt. Die Gesellschaft muss wieder lernen, sich nach dem Erfolg zu strecken, beginnend in der Schule bei den Jüngsten.

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

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