„Meinungsbarometer E-Rezept“ von ETL Advision/Civey

Ein Fünftel des Rx-Geschäfts ist bedroht


Dr. Hubert Ortner

Das unlängst veröffentlichte Meinungsbarometer E-Rezept von ETL Advision und Civey zeichnet ein differenziertes Bild. Fazit der repräsentativen Umfrage: Knapp zwei Drittel der Befragten (62 %) wollen auch elektronische Verordnungen in ihrer Stammapotheke einlösen, wogegen 15 % in Zukunft andere (digitale) Kanäle nutzen wollen. Das ist nur auf den ersten Blick eine gute Nachricht: Wandert nur ein Drittel der Unentschlossenen (23 %) in Richtung Versandhandel ab, dann ist etwas mehr als ein Fünftel des Rx-Geschäfts in Gefahr. Das würde die Vor-Ort-Apotheken hart treffen – schließlich spielen verschreibungspflichtige Arzneimittel knapp 70 % der Roherträge ein.

Gut ein Fünftel des entscheidenden Rx-Geschäfts ist laut Meinungsbarometer E-Rezept von ETL Advision und Civey von elektronischen Verschreibungen bedroht. (© AdobeStock/Susiwe)

Stellen Sie sich vor, das E-Rezept wird – nach gefühlt 478 Verschiebungen und 612 Pannen – irgendwann doch flächendeckend eingeführt und keiner bekommt etwas mit. Ein abwegiger Gedanke? Ganz und gar nicht, wenn man sich das Ende Februar publizierte „Meinungsbarometer E-Rezept – wie das E-Rezept den Apothekenmarkt verändert“ genauer anschaut. Das hat ETL Advision, Deutschlands größte Steuerberatungsgruppe für das Gesundheitswesen, in Kooperation mit dem renommierten Meinungs- und Marktforschungsinstitut Civey erhoben. Basis der repräsentativen Online-Befragung waren 7.500 Teilnehmer, die zwischen dem 15. August und 14. November 2022 befragt wurden.

Hohe Zustimmung trotz Mager-Kommunikation

Erstaunlich: 60,7 % der befragten Personen gaben an, dass sie sich eher schlecht oder sehr schlecht über die mögliche Nutzung des E-Rezepts informiert fühlen. Nur 21,4 % fühlten sich gut bis sehr gut informiert. Noch unentschieden sind 17,9 % der Befragten. Die gefühlt schlechteste Information (mit 81,4 %) liegt bei den befragten Personen in der Altersgruppe von 30 bis 39 Jahren vor. Am besten informiert fühlen sich mit 32,4 % die befragten Personen der Altersgruppe 18 bis 29 Jahre (siehe Abbildung 1).

Abb. 1: Wie gut fühlen Sie sich über die Nutzung des E-Rezepts informiert? Quelle: ETL Advision/Civey

Vor dem Hintergrund dieser mangelhaften Informationspolitik überrascht die dennoch positive Grundeinstellung der Umfrageteilnehmer zum E-Rezept: Insgesamt bewerten 49,2 % aller Befragten die Einführung elektronischer Verordnungen positiv – eine Einschätzung, die sich durch die verschiedenen Altersgruppen hindurchzieht.

Nur auf den ersten Blick beruhigend

Die Gretchenfrage der Studie aus Sicht der Offizin-Apotheken lautete: „Würden Sie ein E-Rezept bevorzugt von Ihrer Stammapotheke bearbeiten lassen?“ Schließlich fürchten diese durchaus zu Recht, dass mit der Digitalisierung der Arzneimittel-Verordnungen eine spürbare Abkehr hin zu Versandhändlern stattfinden könnte. Nicht ohne Grund bauen die großen niederländischen Versender schon seit Jahren auf das Prinzip Hoffnung – dass sie mit Einführung des E-Rezepts endlich ein größeres Stück vom lukrativen Rx-Geschäft abbekommen, um nicht weiterhin bloß Investorengeld zu verbrennen, sondern endlich auch Geld zu verdienen.

Janine Peine: „Obwohl Online-Apotheken häufig genutzt werden, will die Mehrheit der Befragten das E-Rezept durch ihre Stammapotheke bearbeiten lassen. Das ist auf den ersten Blick ein beruhigendes Ergebnis!“

Die Antworten auf diese Gretchenfrage sind für die Vor-Ort-Apotheken – zumindest auf den ersten Blick – erfreulich: Konkret gaben knapp zwei Drittel der Befragten (62 %) in der Umfrage an, das E-Rezept bevorzugt durch ihre Stammapotheke bearbeiten lassen zu wollen (Abbildung 2). Janine Peine, Leitung ETL Advision und eine der beiden Studienautorinnen, sieht darin „ein gutes Umfrageergebnis. Obwohl Online-Apotheken und Lieferdienste schon häufig genutzt werden, will die Mehrheit der Befragten das E-Rezept durch ihre Stammapotheke bearbeiten lassen“ – und beruhigt so die besorgten Pharmazeuten.

Abb. 2: Würden Sie das E-Rezept bevorzugt in Ihrer Stammapotheke einlösen? Quelle: ETL Advision/Civey

Wenig zu gewinnen, aber sehr viel zu verlieren...

Der zweite Blick auf die Antworten zu dieser Frage ist indes weniger beruhigend: Demnach sind 23,3 % der Befragten noch unschlüssig, ob sie elektronische Rezepte bevorzugt bei ihrer Stammapotheke einlösen würden, und 14,7 % wollen dies explizit nicht tun. Angenommen, von den 23 % Unentschlossenen lösen zwei Drittel ihre E-Rezepte weiterhin in Vor-Ort-Apotheken ein, während ein Drittel in Richtung Versandhandel abwandert, dann würde den Offizin-Apotheken gut ein Fünftel (22,5 %) ihres Rx-Geschäfts wegbrechen. Dieses ist bekanntermaßen die tragende Säule im wirtschaftlichen Sinn und spielt gut 80 % der Umsätze und 65 % bis 70 % der Roherträge ein.

Die Crux dabei ist, dass die Vor-Ort-Apotheken bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln noch eine extrem starke Marktposition haben: Nur etwa 1 % des Rx-Geschäfts laufen derzeit über den Versandhandel. Insofern können die Offizin-Apotheken – rein kaufmännisch betrachtet – bei der Umstellung auf die elektronischen Verschreibungen weniger gewinnen – aber sehr viel mehr verlieren

Auf die (digitale) Kundenbindung kommt es an

Weil das E-Rezept aber so oder so kommen wird – allenfalls etwas verzögert durch den „deutschen Digital-Dilettantismus“ – und eine rückwärtsgewandte Verteidigung im traditionellen ABDA-Stil keine Apotheke auch nur einen einzigen Schritt weiterbringen wird, stellt sich vor allem eine Frage: Wie kann es eine Apotheke schaffen, ihre in der Regel hohe Kundenbindung möglichst ohne große Reibungsverluste in die digitale Welt zu übertragen?

Carmen Brünig, Branchenleitung Apotheken bei der ETL Advision und die zweite Studienautorin, bringt es so auf den Punkt: „Die Kundenbindung wird der entscheidende Faktor sein, durch den Vor-Ort-Apotheken die veränderten Prozesse zu ihrem Vorteil nutzen können.“

Carmen Brünig: „Apotheken müssen auf die veränderten Kundenbedürfnisse eingehen und es schaffen, das bestehende Vertrauensverhältnis mit den Kunden in die digitale Welt zu übertragen.“

Konkret benennen die beiden Studienautorinnen in dem „Meinungsbarometer E-Rezept“ zwei Schlüsselfaktoren, um die Kundenbindung in Zeiten des digitalen Umbruchs nicht nur zu halten, sondern sogar weiter auszubauen und damit eine Abwanderung der Kunden in Richtung Versandhandel aufzuhalten:

  • Das ist zum einen der Aufbau neuer Kommunikationswege. Brünig: „Apotheken müssen auf die veränderten Kundenbedürfnisse eingehen“. Entscheidend ist aus Sicht der langjährigen Branchenkennerin, „das bestehende Vertrauen zwischen Kunde und Apotheke in die digitale Welt zu übertragen“. Das sieht Peine genau gleich: „Apothekeninhaber sollten sich rechtzeitig mit den rechtlichen Vorgaben beschäftigen, um die Arbeitsabläufe und die Kundenansprache gezielt anzupassen.“
  • Zum anderen kommt dem systematischen Ausbau von (pharmazeutischen) Dienstleistungen eine entscheidende Rolle zu. Konkret wurden die Teilnehmer befragt, welche Dienstleistungen sie in Vor-Ort-Apotheken gerne nutzen würden. Fazit: Zwei Drittel der Befragten (64,8 %) können sich vorstellen, den Lieferservice zu nutzen, Impfungen in Apotheken sind für 39,0 % ein relevantes Angebot und eine erweiterte Medikationsberatung für 37,1 %. Immerhin jeder Fünfte (20,2 %) würde eine Beratung über das Telefon oder Internet in Erwägung ziehen (Abbildung 3).

Abb. 3: Welche dieser Dienstleistungen in Vor-Ort-Apotheken können Sie sich vorstellen zu nutzen? Quelle: ETL Advision/Civey 

An den Apotheken scheitert die E-Rezept-Einführung nicht…

Natürlich adressiert die Studie auch die administrativen, datenschutzrechtlichen und sonstigen Hürden bei der flächendeckenden Einführung des E-Rezepts. Auf diese wollen wir an dieser Stelle nicht näher eingehen: Darüber wird unter anderem auf DAZ online seit Jahren ausführlich berichtet.

Aus gutem Grund möchte sich Carmen Brünig in diesem Kontext auch nicht allzu weit aus dem Fenster lehnen: „Ob das E-Rezept in diesem Jahr eingeführt werden kann, ist noch unsicher. Doch eine Gewissheit geht aus unserer Studie deutlich hervor: Die Apotheken sind ‚E-Rezept-ready‘ – und die Kunden sind es auch!“

 

Dr. Hubert Ortner, Biochemiker, Chefredakteur AWA - Apotheke & Wirtschaft, 70191 Stuttgart, E-Mail: hortner@dav-medien.de

Angemerkt: Fatale „Weder-noch-Strategie“

Ein Befund der Studie von ETL und Civey ist eine schallende Ohrfeige für die Berliner Politik, im speziellen für das Bundesgesundheitsministerium (BGM): Fast zwei Drittel der befragten Personen gaben zu Protokoll, dass sie sich schlecht oder sehr schlecht über die mögliche Nutzung des E-Rezepts informiert fühlen. Was für ein Armutszeugnis für ein Leuchtturmprojekt wie das E-Rezept, das schon seit zwei Jahrzehnten von Bundesgesundheitsministern verschiedener Couleur mit rhetorischen Superlativen überzogen wird! Vor knapp zehn Monaten schwärmte Karl Lauterbach im Zusammenhang mit dem Rollout-Start zum 1. September – der längst wieder Geschichte ist – noch von einer „digitalen Revolution“. Ganz zu schweigen von den vielen „digitalen Durchbrüchen“, die in schöner Regelmäßigkeit aus Berlin verkündet werden. Kein Wunder, dass das deutsche Gesundheitswesen immer löchriger wird …

Die Bürger auf dem steinigen Weg der Digitalisierung des Gesundheitssystems mitzunehmen, scheint unter der Würde des BGM zu sein. Man hat in der Mauerstraße 29 schließlich weit Wichtigeres zu kommunizieren wie zum Beispiel eine gendergerechte Neuformulierung des Pflichttextes für die Arzneimittelwerbung …

Aus dem Marketing wissen wir, dass es grundsätzlich zwei Möglichkeiten gibt, ein Neuprodukt in die Fläche zu bringen: Vereinfacht gesagt, kann man entweder (1) einen starken „Pull-Effekt“ – will heißen eine hohe Nachfrage – im Markt erzeugen, dann bleibt dem Handel letztlich keine andere Wahl, als ein Produkt zu listen. Oder (2) man setzt auf den „Push-Faktor“ und „drückt“ die Ware über den Handel in den Markt. Übertragen auf das E-Rezept würde die Pull-Strategie bedeuten, deren Vorteile so durchdringend zu kommunizieren, dass die Patienten den Ärzten und Apotheken gar keine andere Wahl lassen. Die Push-Strategie würde bedeuten, das E-Rezept über die entscheidenden Akteure – das sind zuerst die Ärzte und dann die Apotheker – in den Markt zu drücken. Im BGM hat man sich für die „Weder-Noch-Strategie“ entschieden: Anreize für Ärzte, stärker aufs E-Rezept zu setzen – Fehlanzeige. Eine solide Nutzen-Kommunikation in Richtung Patienten – ebenfalls Fehlanzeige. Stattdessen rhetorische Luftnummern, selbstverständlich gendergerecht formuliert. Das ist ein Armutszeugnis.

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2023; 48(06):7-7