Zwischen Aufbruch und Aufgabe

Finden Sie Ihren Weg in schwierigen Zeiten


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Seit Jahren schließen jährlich über 1 %, inzwischen sogar rund 2,5 % der Apotheken. Nur noch wenige eröffnen neu. Der Strukturwandel ist im Gange, und man geht ihn aktiv mit oder wird gegangen – bis hin zur situativ erzwungenen Aufgabe. Soweit sollte es niemand kommen lassen.

Wo geht die Reise für deutsche Apotheken hin - in eine gute Zukunft oder geradewegs ins Aus? Diese Frage kann nur jeder Apothekeninhaber/-leiter selbst für seine Offizin beantworten. (© R. Herzog)  

Über viele Jahre hinweg verlief der Apotheken-Weg für die meisten ziemlich geradlinig, zwar durch viele Regularien eingegrenzt, aber doch berechenbar. Das hat sich schleichend geändert. Verwerfungen wie Corona, eine selten hohe Inflation, umrahmt von empfindlichen Störungen der Lieferketten und die Angst machenden gesellschaftlichen Zukunftslasten – von Demografie bis Klimawende – lassen die alten Gewissheiten an der „neuen Normalität“ zerschellen. Somit ist es an der Zeit, Positionen und Perspektiven grundlegend zu hinterfragen und ein neu skaliertes Bild für die individuelle Zukunft zu entwerfen!

Bestandsaufnahme

Wo bewegt sich der eigene Betrieb im Branchenvergleich? Hier bietet es sich an, den Markt nach Umsatz sowie Rohertrag in Viertel (Quartile) einzuteilen. Schwierig sind die Aussichten für das unterste Viertel (1. Quartil), wenn es sich nicht gerade um ganz spezielle Nischenlagen mit guter Rentabilität handelt, aber die sind rar. Das untere Mittelfeld muss ebenfalls vielfach als gefährdet gelten. Im oberen Mittelfeld (3. Quartil) bleibt hoffentlich eine standortbedingte Wahl, nämlich perspektivisch der Aufstieg in das oberste Viertel mit der höchsten Krisenresilienz (von umsatzstarken Hochrisiko-Betrieben mit massiven Klumpenrisiken abgesehen). Die Alternativen lauten Quasi-Stagnation und (noch) ernten, was geht – oder gar der Abstieg ins untere, schwierige Feld.

Die konkreten Umsatzgrenzen zeigt Tabelle 1, abgeleitet aus der aktuellen Umsatzverteilung der ABDA (laut Wirtschaftsbericht für 2022 vom April 2023). Wir blenden hier jedoch bewusst die größten Apotheken über 10 Mio. € Umsatz aus. Das sind 1,3 % oder etwa 240 Betriebe, in aller Regel Spezialapotheken mit Parenteralia- oder Krankenhausversorgung bzw. Versandapotheken. Diese Ausschlüsse machen bei der Bezifferung der Quartile Sinn. Andernfalls würden sich die Grenzen für die klassischen Offizin-Apotheken zu sehr (nach oben) verschieben – weil man sich mit den „falschen“ Betrieben vergleicht, die in anderen Sortimentsbereichen unterwegs sind.

Tab. 1: Quartile nach Anzahl / Marktanteil, Betriebe bis 10 Mio. € Umsatz

nach Anzahl

nach Marktanteil

Quartil

Grenzen Umsatz

Grenzen Rohertrag

Grenzen Umsatz

Grenzen Rohertrag

unterstes Viertel (1. Quartil)

bis 2,0 Mio. €

bis 440.000 €

bis 2,4 Mio. €

bis 540.000 €

untere Mitte (2. Quartil)

ab 2,0 bis
2,8 Mio. €

ab 440.000 € bis 610.000 €

ab 2,4 bis
3,3 Mio. €

ab 540.000 € bis 710.000 €

obere Mitte (3.Quartil)

ab 2,8 bis
3,8 Mio. €

ab 610.000 € bis 830.000 €

ab 3,3 bis
4,5 Mio. €

ab 710.000 € bis 960.000 €

oberstes Viertel (4. Quartil)

ab
3,8 Mio. €

ab
830.000 €

ab
4,5 Mio. €

ab
960.000 €

Branchensummen

Apotheken bis 10 Mio. € Umsatz: ≥ 55 Mrd. € Umsatz bzw. ≥12 Mrd. € Rohertrag


Schicksalhafte Quartile

Bei den Quartilsgrenzen kommt es noch darauf an, ob wir die Grenzen nach Anzahl der Apotheken ziehen (also bis 25 %, sowie die Klassen 25 % bis 50 %, 50 % bis 75 % und über 75 % der Betriebe mit dem korrespondierenden Umsatz bzw. Rohertrag), oder nach Marktanteilen hinsichtlich Umsatz bzw. Ertrag. Da die kleineren Apotheken hier weniger in die Waagschale werfen können, liegen die Grenzen deutlich höher. Beispiel: Die 25 % kleinsten Apotheken machen nur gut 12 % des Umsatzes; für (die unteren) 25 % Marktanteil müssen aber etwa 32 % der Apotheken herhalten, deren Umsatzgrenze dann bei etwa 2,4 Mio. € verläuft (statt 2,0 Mio. € nach Anzahl).

Zwischenergebnis: Unterhalb eines Rohertrags von etwa 450.000 € bis 500.000 € ist die Zukunftsfähigkeit sehr fraglich. Auch in der Klasse darüber, bis gut 600.000 € Ertrag nach Anzahl bzw. 700.000 € nach Marktanteil, darf es jedenfalls zu keinem größeren Aderlass kommen. Zwar sind damit immer noch auskömmliche Existenzen möglich, viel Luft nach unten ist aber nicht.

Die „Apothekensonne“ beginnt gern ab einem Rohertrag von gut 800.000 € zu scheinen. Lokale Besonderheiten können die Grenzen noch verschieben. Teilweise ist man bereits mit 2,5 Mio. € Umsatz oder um die 550.000 € bis 600.000 € Ertrag der „König“ vor Ort; andernorts gehört man mit 3 Mio. € Umsatz noch klar zur unteren Hälfte, vor allem in den „reichen“ Metropolen, bedingt durch die dort gegebene medizinische Maximalversorgung mit daraus resultierend hohen Pro-Kopf-Umsätzen.

Reif für die Aufgabe?

Eine Schließung ist typischerweise negativ konnotiert. Dabei hat sie auch positive Aspekte: Leidensgeschichten enden, und sie kann sogar erst den Weg zu etwas Neuem ebnen (und sei es wieder eine andere Apotheke).

Geschieht dies in der Nähe unter Mitnahme der meisten bisherigen Kunden, reden wir treffender von Verlegung. Erfahrungsgemäß lohnt sich eine Verlegung dann, wenn damit ein erheblicher Aufstieg (idealerweise in das oberste Viertel) verbunden und der neue Standort dauerhaft zukunftssicherer ist. Nicht selten sind jedoch Querelen mit dem Vermieter oder vermeintliche bauliche Unzulänglichkeiten ursächlich. Um danach weiterhin in der unteren Hälfte oder allenfalls um die Mittellage unterwegs zu sein, macht rein wirtschaftlich-nüchtern betrachtet jedoch regelhaft keinen Sinn; allenfalls emotionale Bindungen an den Ort mögen das rechtfertigen, eine Frage des (nicht nur monetären!) Preises.

Entscheidungsgang

Bevor Sie nun an einem Standort endgültig „den Schlüssel herumdrehen“, sollten Sie möglichst u.a. folgende entscheidungsrelevanten Punkte abarbeiten – die Faktenlage schlägt dabei die Emotionen (siehe dazu auch Abbildung 1):

Abb. 1: Entscheidungsgang zur Zukunft des jeweiligen Apothekenbetriebs

 

  • Wo liegen Sie heute in der Umsatz-/Ertrags-Verteilungskurve (siehe Quartile oben)?
  • Wie verläuft die Kosten-Ertragsschere? Steigen die Kosten langfristig stärker als Ihre Erträge (sprich die Gewinne erodieren), ist ein Ende absehbar.
  • Wie sieht Ihr Marktpotenzial vor Ort aus, und schöpfen Sie dieses aus (bzw. haben Sie überhaupt realistische Optionen, dieses abzuschöpfen)?
  • Wie sieht Ihr Standort mutmaßlich in einigen Jahren aus? Welche (negativen oder positiven) Veränderungen sind absehbar, von der allgemeinen Demografie über die Ärzteversorgung und Frequenzbringer bis hin zur Verkehrsanbindung?
  • Welche Zukunft hat Ihre räumliche Situation (Mietverhältnis, Probleme im Eigentum wie ein teurer Sanierungsstau u. a. im Gefolge der Klimaschutzmaßnahmen)?
  • Zehren Sie personell (und Sie selbst als Inhaber/in) immer weiter aus, ohne dass Sie das absehbar beheben bzw. kostenmäßig schultern könnten?

 

Bevor Sie nun still und leise schließen, überlegen Sie, ob Sie Ihren Rohertrag bevorzugt an die nächstliegende Konkurrenzapotheke verkaufen können.

Tun Sie das frühzeitig, bevor die Alternativlosigkeit der Schließung offenkundig wird und es die berühmten Spatzen vom Dach pfeifen. Heimpatienten oder ein interessantes Spezialsegment lassen sich möglicherweise separat weitergeben. Heute kann sogar das Personal (inklusive der eigenen Arbeitskraft, sofern gewünscht) ein interessantes „Asset“ für die Apotheke gegenüber darstellen.

Blickwechsel – die „Jäger-Perspektive“

Umgekehrt lohnt es gerade für das oberste Viertel der Apotheken, nicht nur nach passend-attraktiven, aber teuren Filialen zu schauen, sondern konsequent nach Kandidaten unterhalb des Medians mit dem Ziel der Abwicklung. Bisweilen geht es dabei gar nicht mehr nur um die Einverleibung zusätzlicher Erträge, sondern um die Auffüllung mit Personalressourcen. Dazu müssen diese Apotheken aber mit vernünftigem Aufwand „abwicklungsfähig“ sein, in erster Linie bedeutet das:

  • keine zu weit gehenden vertraglichen Verpflichtungen (v. a. Mietverträge, aufwendige Rückbaupflichten, personelle Besonderheiten (nicht alles ist Gold!), und das Thema EDV),
  • eine hinreichende Übernahmechance eines hohen Kundenanteils, abhängig von den räumlich-geografischen Gegebenheiten und der Positionierung etwaiger Konkurrenzapotheken,
  • kooperative Bereitschaft der alten Apothekenleitung, den Übergang reibungsarm und effektiv zu begleiten,
  • damit einhergehend angemessene Vorstellungen für den „goldenen Handschlag“.

 

Idealerweise kombinieren Sie bei dieser Übernahmeprämie einen Festbetrag mit einer erfolgsabhängigen Komponente. Letztere lässt sich an Ihrer Rohertragssteigerung, bereinigt um die branchenübliche Marktveränderung, innerhalb eines Jahres ganz gut festmachen.

Diesen hinzugewonnenen Jahresertrag können Sie einmalig zu etwa 50 % bis maximal gegen 100 % ausschütten, unter Anrechnung der Vorabzahlung. Besteht aufgrund der Umfeldsituation eine hohe Chance, dass Sie diesen Zusatzertrag auf Dauer vereinnahmen, können Sie eher Richtung 100 % gehen, bei größeren „Verflüchtigungstendenzen“ der Kundschaft sollten Sie erheblich darunter bleiben. Denken Sie in jedem Fall an das „lange Ende“, und seien Sie ggf. nicht zu kleinlich. Solche Chancen sind oft die einzige Gelegenheit, der Marktentwicklung ein Schnippchen zu schlagen.

Nicht nur die nackten Zahlen entscheiden

Häufig bestehen bei den Altinhabern eine Reihe von Bedenken und Ängsten, neben emotionalen Bindungen (s. Stop-loss-Strategien). Eine hohe sozial-kollegiale Intelligenz kann den entscheidenden Unterschied machen. Die Auflösung einer Apotheke ist oft eine enorme – auch operative – Hürde. Bieten Sie ein „Rundum-Sorglos-Paket“ an, das ist alles ein Rechenexempel. Und binden Sie die oder den Altinhaber/in gern noch in Ihren Betrieb temporär und flexibel mit ein, nicht zuletzt, um den Übergang der Kunden zu fördern.

 

Stop-loss-Strategien und die Geschichte vom „toten Pferd“

Verlustbegrenzungsstrategien gelten als ein großer Erfolgsbaustein, um nicht „auszubrennen“, und das beileibe nicht nur finanziell. Bekannt ist der Spruch: „Wenn Du bemerkst, dass Du ein totes Pferd reitest, dann steig ab“. Verlustbegrenzungsstrategien greifen bereits vorher.

  • Am bekanntesten ist ein Stop-loss an der Börse: Es werden Preisgrenzen für Wertpapiere vorgegeben, bei deren Unterschreitung der sofortige (ggf. automatische) Verkauf erfolgt. Klug gesetzt und bei steigenden Kursen immer wieder nachgezogen, vermeidet man so, dass man bei einem Kursverfall zu sehr mitgerissen wird.
  • Umgemünzt auf einen Betrieb oder Standort, kann man ebenfalls Grenzen (z. B. Roherträge) oder ein ganzes Set an Standortfaktoren (Ärzteversorgung, Passantenfrequenz etc.) definieren, bei deren Unterschreitung eine vertiefte Prüfung und danach ggf. konsequent ein Verkaufs- oder Schließungsprozess in Gang gesetzt wird.
  • Beziehungen aller Art können ebenfalls empfindlich auf das emotionale Konto (negativ) einzahlen; sogar hier kann man sich klare Grenzen setzen, ab denen man besser auf ungute Partnerschaften verzichtet.

Zusammengefasst sind Stop-loss-Strategien ein wichtiges Element präventiven Handelns, bevor ein Schaden zu groß wird.

Hinweis

Neben verschiedenen Rechenwerkzeugen finden Sie auf unserer Internetpräsenz www.apotheke-wirtschaft.de auch eine Standort-Checkliste, welche Ihre Entscheidung für oder gegen einen Weiterbetrieb am jeweiligen Ort objektivieren kann.

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen , E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

Aktueller Wirtschaftsdienst für Apotheker 2023; 48(11):4-4