Ärztemangel?

Ausbilden, bis der Arzt kommt


Prof. Dr. Reinhard Herzog

Der „Ärztemangel“ bedroht zunehmend auch Apotheken-Existenzen, was angesichts eines rund 85 %igen Verordnungsanteils nach Umsatz nicht verwundert. Bislang ist freilich die Zahl der Ärzte stets gestiegen. Vor der Corona-Pandemie betrug der Zuwachs 2 % bis 3 % jährlich, in den Corona-Jahren zwischen 1,2 % und 1,7 %. Ende 2022 hatten wir 421.000 berufstätige Ärzte in Deutschland (ohne Zahnärzte), fast 40 % ambulant, knapp 52 % in Kliniken, der Rest anderswo. Rund 60.000 davon kommen, mit steigender Tendenz, aus dem Ausland. Kliniken wie der ambulante Bereich weisen ähnliche Veränderungsraten auf, wobei vor allem Fachärzte zulegen, aber selbst die Allgemeinärzte sind bislang so gut wie jedes Jahr mehr geworden. Ein Blick in die „Gesundheitsdaten der KBV“ (Kassenärztlichen Bundesvereinigung) gibt Auskunft. Erstaunlich ist die Menge an angestellten Ärzten im ambulanten Bereich; gut 55.000 waren es Ende 2022, stark wachsend. Hier findet ein enormer Strukturwandel statt: MVZ, zudem fast schon kettenähnliche Strukturen und immer mehr Großpraxen mit mehreren „Kassensitzen“, aber auch Angestellten. Doch selbst bezogen auf die gestiegenen Einwohnerzahlen liegt unsere Ärztedichte im oberen Fünftel der EU.

In den 1990er Jahren wurde vor einem Medizinstudium gar gewarnt und eine „Ärzteschwemme“ prognostiziert. Und tatsächlich ist diese im Grunde eingetreten. Mehrere Faktoren haben trotzdem zum heute (vermeintlichen?) Ärztemangel geführt. Zum einen ist die Bevölkerungszahl gestiegen, auf aktuell rund 85 Millionen. In den 2000er Jahren lagen die Prognosen für 2025 eher um oder bereits unter 80 Millionen. Der Frauenanteil hat sich erheblich erhöht, damit sind die Arbeitszeiten rückläufig. Unabhängig davon sind die „Berufsausübungsgemeinschaften“ immer mehr geworden. Ärztinnen und Ärzte teilen sich eine Praxis (nebst den Kosten), arbeiten erheblich weniger und büßen unter dem Strich kaum an Verdienst ein. Die Apotheken bekommen dieses Modell der Zusammenschlüsse zu wenigen, starken Betrieben bis heute in der Breite nicht hin, obwohl es enorme Chancen eröffnet. In den Kliniken ist die Teilzeitquote ebenfalls gestiegen, werden Arbeitszeiten ganz anders erfasst und berechnet als vor 20 oder 30 Jahren. Lange Rede, kurzer Sinn: Die Arbeitszeit pro Arzt ist erheblich gefallen, und das erklärt zu einem großen Teil den Ärztemangel. An der Zahl der Köpfe liegt es (noch) nicht.

Mangel bedeutet Macht der Anbietenden hinsichtlich Arbeitsbedingungen und Löhnen. Es verwundert so nicht, dass Ärzte sich recht gut mit ihren Forderungen durchsetzen können. Erhöht man hypothetisch das Salär je berufstätigem Vollzeit-Arzt um einen Tausender monatlich, bedeutet das mit Nebenkosten um 5 Milliarden Euro zusätzlich im Jahr. Angesichts eines sich aus momentaner Sicht verschärfenden Mangels an Ärzten (und anderen Gesundheitsberufen) ist es wahrscheinlich, dass überproportionale Lohnsteigerungen durchgesetzt werden können. Rechnet man derartige zu erwartende Steigerungsraten über die Zahl der Berufsjahre in die fernere Zukunft hoch, resultieren enorme Beträge, die quasi als immanente Zukunftslast vor uns liegen, ähnlich wie bei Renten, Sozialleistungen oder anderen gesellschaftlichen Kosten.

In Gesundheitsberufen herrscht somit ein Arbeitnehmermarkt, aus volkswirtschaftlicher Sicht drohen Probleme. Das einfachste Mittel dagegen: Das Angebot an Arbeitskräften erhöhen! Eine gewisse Arbeitslosenquote dämpft die Forderungsbereitschaft. Qualifizierte Zuwanderung hat den Charme, dass sie schnell umsetzbar ist und man einige Erziehungs- und Ausbildungskosten spart. Zudem gilt: Ausbildungskapazitäten massiv erhöhen! Auf einen Medizinstudienplatz (Anzahl knapp 10.000) kommen 3,5 Interessenten. Nachfrage ist also genug da. Selbst wenn die Arztausbildung im Bereich von 250.000 € veranschlagt wird – einige tausend zusätzliche Plätze, sogar über Bedarf hinaus, rechnen sich volkswirtschaftlich. Dazu muss man die Ausbildungskosten nur der „Lifetime-Ersparnis“ (geringere Vergütung jährlich plus höhere Arbeitszeit mal 30 bis 40 Berufsjahre) gegenüberstellen, wenn die Forderungen eben nicht mehr nach Belieben wachsen können und sich alle wieder mehr anstrengen müssen. Sogar Landpraxen werden dann plötzlich wieder chic. Hart, aber leider auch wahr.

 

Prof. Dr. Reinhard Herzog, Apotheker, 72076 Tübingen, E-Mail: Heilpharm.andmore@t-online.de

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